Zaubersommer in Friday Harbor

beiden streiten?”
    „Wenn ich
nicht schnellstens in Deckung gehe, meinst du?”, fragte Sam trocken
zurück. „Dann sage ich Mark, dass er Alex weder ändern noch vom Trinken
abhalten kann. Die Entscheidung liegt allein bei Alex. Und Alex drohe ich,
dass ich ihn in eine Entzugsklinik stecke, wenn er einen bestimmten Punkt
überschreitet. Keine Klinik mit Promis und Wellnessbereich, sondern eine mit
Elektrozaun, Furcht einflößenden Zimmerkollegen und Toiletten, die man selbst
putzen muss.”
    „Glaubst
du, dass es jemals so weit kommen wird? Dass du ihn davon überzeugen kannst ...
sich professionelle Hilfe zu suchen?”
    Nachdrücklich
schüttelte Sam den Kopf. „Ich glaube, Alex wird immer gerade noch so gut
funktionieren, dass er sich nicht mit seinem Problem auseinandersetzen
muss.” Er schaute in die Tiefen seines Weinglases, schwenkte die tiefrote
Flüssigkeit. „Er gibt es nicht zu, aber er hat eine Wahnsinnswut auf die ganze
verdammte Welt, weil wir in so einer kaputten Familie
aufgewachsen sind.”
    „Aber du
empfindest anscheinend nicht so”, entgegnete Lucy leise. „Ich meine, du
hast keine Wut auf die Welt.”
    Sam zuckte
die Achseln und wirkte plötzlich in sich gekehrt. „Ich hatte es ein bisschen
leichter als er. Es gab da ein altes Ehepaar ein paar Häuser weiter. Sie waren
meine Rettung, bei ihnen suchte ich Zuflucht. Sie hatten selbst keine Kinder,
und ich hing viel bei ihnen herum.” In Erinnerungen versunken lächelte
er. „Fred ließ mich einen alten Wecker auseinandernehmen und wieder zusammenbauen.
Er zeigte, mir, wie man das Abflussrohr einer Küchenspüle ersetzt. Mary war
Lehrerin. Sie gab mir Bücher zu lesen und half mir manchmal bei den Hausaufgaben.”
    „Leben sie
noch?”
    „Nein,
beide nicht mehr. Mary hinterließ mir ein bisschen Geld, damit ich die
Anzahlung für dieses Grundstück leisten konnte. Meine Idee von einem Weingut
fand sie wunderbar. Sie hat selbst Wein aus Brombeeren gekeltert – ein
grässliches süßes Zeug.” Sam verfiel in Schweigen, kramte in
Erinnerungen.
    Lucy
begriff, dass er versuchte, für sie Verbindungen herzustellen und sein Wesen
auf eine Art zu erklären, die ihm nicht leichtfiel. Er war nicht der Mann, der
nach Entschuldigungen für sein Auftreten und seinen Charakter suchte. Aber
anscheinend war es ihm wichtig, dass sie den Menschen verstand, der aus der
bitteren zerrütteten Ehe seiner Eltern hervorgegangen war.
    „An meinem
zwölften Geburtstag”, fuhr Sam nach einer Weile fort, „kam ich nach der
Schule nach Hause. Vicky hatte Alex irgendwohin mitgenommen, und Mark war
verschwunden. Meine Mutter lag völlig weggetreten auf dem Sofa. Dad trank
Fusel direkt aus der Flasche. Irgendwann wurde ich hungrig, aber es war nichts
zu essen da. Ich suchte nach Dad und fand ihn schließlich in seinem Auto in der
Einfahrt. Er grölte irgendwas von Selbstmord. Also ging ich zu Fred und Mary
und blieb etwa drei Tage dort.”
    „Sie müssen
dir eine Menge bedeutet haben.”
    „Die beiden
haben mir das Leben gerettet.”
    „Hast du
ihnen das jemals gesagt?”
    „Nein. Sie
wussten es auch so.” Mit einem Ruck kehrte Sam in die Gegenwart zurück und
warf Lucy einen unsicheren Blick zu. Sie wusste, dass er ihr mehr erzählt
hatte, als er wollte. Möglicherweise bereute er es schon.
    „Bin gleich
wieder da”, sagte er und ging nach draußen, um die Steaks auf den Grill
hinterm Haus zu legen.
    Während das Fleisch auf dem Grill brutzelte
und die roten Kartoffeln im Ofen garten, erzählte Lucy von ihren Eltern und
von ihrer kürzlichen Entdeckung, dass ihr Vater vor der Ehe mit ihrer Mutter
schon einmal verheiratet gewesen war.
    „Wirst du
ihn danach fragen?”
    „Ich bin
zwar neugierig”, gab Lucy zu, „aber ich weiß nicht sicher, ob ich scharf
auf die Antworten bin. Er liebt Mom. Doch ich will nicht von ihm hören, dass er
eine andere mehr geliebt hat als sie.” Mit den Fingern zog sie die
Schrammen auf dem alten Küchentisch nach. „Dad war uns gegenüber immer ziemlich
distanziert. Zurückhaltend. Ich glaube, seine erste Frau hat ein Stück von
seinem Herzen mitgenommen, und er konnte es nach ihrem Tod niemandem mehr
geben. Wahrscheinlich hat er dauerhaft Schaden an seiner Seele genommen, aber
Mom wollte ihn trotzdem.”
    „Es ist
vermutlich schwer, mit einer Erinnerung konkurrieren zu müssen”, meinte
Sam.
    „Ja. Arme
Mom.” Lucy verzog das Gesicht. „Es tut mir leid, dass sie hierher zu dir
kommen. Es ist dir gegenüber nicht