Zaubersommer in Friday Harbor
Gefühlen auf. Meistens
versuchten sie, sich abzuschotten, sich dagegen zu wehren, verletzt,
manipuliert oder schlimmstenfalls verlassen zu werden. Im Ergebnis empfanden
sie Nähe als etwas Brandgefährliches, etwas, das unter allen Umständen zu
meiden war. Und trotzdem kam Sam ihr näher und lernte allmählich, ihr zu
vertrauen, anscheinend ohne sich dessen bewusst zu sein.
Du bist
mehr wert, als du glaubst. Zu
gern hätte Lucy ihm das gesagt. Es war nicht unmöglich, zu glauben, dass Sam
eines Tages einen Punkt erreichen könnte, an dem er jemanden lieben und
zulassen konnte, selbst geliebt zu werden. Andererseits konnte ein solch
wichtiger Wandel in der Selbsterkenntnis sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Vielleicht
brauchte er sein ganzes Leben dafür oder würde diesen Punkt sogar nie erreichen.
Der Frau, die all ihre Hoffnung auf Sam setzte, würde er jedenfalls mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Herz brechen.
Und nur
sich selbst gegenüber gestand Lucy ein, dass sie gefährlich nah daran war,
diese Frau zu werden. Es wäre so einfach, sich zu gestatten, Sam zu lieben. Sie
fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen, war so glücklich, wenn sie
zusammen waren, dass sie begriff: Ihre Beziehung näherte sich rasch ihrem Ende.
Wenn sie nämlich zu lange mit dem Bruch wartete, dann würde sie ernstlich
verletzt werden. Viel stärker verletzt als durch Kevins Verrat.
In der
Zwischenzeit war sie entschlossen, jeden Augenblick mit Sam zu genießen. Gestohlene
Augenblicke, erfüllt von der bittersüßen Gewissheit, dass Glück so vergänglich
war wie das Mondlicht.
Obwohl Lucy keinen unmittelbaren Kontakt
zu Alice pflegte, hielt ihre Mutter sie über die Fortschritte der
Hochzeitsplanung auf dem Laufenden. Die Trauung würde in der Our-Lady-of-Good-Voyage-Kapelle
in Roche Harbor im Westen der Insel stattfinden.
Die kleine weiße Kapelle, mehr als hundert Jahre alt, stand auf den Klippen
oberhalb des Hafens. Hinterher war ein Empfang im Hof des McMillin, einem
historischen Restaurant am Wasser, geplant.
Es ärgerte
Lucy, dass ihre Mutter sich trotz ihrer Vorbehalte gegen Kevin mehr und mehr
für die Hochzeit an sich begeisterte. Wieder einmal sah es ganz danach aus,
als könnte Alice tun, was sie wollte, und käme damit durch.
An dem Tag,
an dem ihr die Einladung ins Haus flatterte, legte Lucy sie auf die
Arbeitsplatte in der Küche und empfand jedes Mal, wenn sie sie ansah, einen
Stich von Verbitterung und Arger.
Als Sam zum
Essen kam, entdeckte er den verschlossenen Umschlag sofort.
„Was ist
das?”
Lucy zog
eine Grimasse. „Die Einladung zur Hochzeit.”
„Willst du
sie nicht öffnen?”
„Ich hoffe,
dass das Ding einfach irgendwie verschwindet, wenn ich es nur lange genug vor
mir herschiebe und ignoriere.” Sie machte sich an der Spüle zu schaffen
und wusch Salatblätter in einem Durchschlag.
Sam trat
von hinten an sie heran, legte seine Hände auf ihre Hüften und zog sie
rücklings an sich. Er wartete geduldig, war einfach da. Schließlich beugte er
sich über sie und streifte mit den Lippen ihr Ohr.
Lucy drehte
das Wasser ab und trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch. „Ich weiß
nicht, ob ich hingehen kann”, sagte sie mürrisch. „Ich will nicht. Aber
ich muss. Ich sehe keine Alternative.”
Sam drehte
sie zu sich um und legte die Hände links und rechts von ihr auf die
Arbeitsplatte. „Fürchtest du, dass es wehtun wird, Kevin und Alice zum Altar
schreiten zu sehen?”
„Ein
bisschen. Aber nicht wegen Kevin. Es geht nur um meine Schwester. Ich bin immer
noch wütend darüber, wie sie mich hintergangen hat, wie sie mich beide belogen
haben. Und jetzt fallen meine Eltern wieder in das alte Muster zurück und
zahlen für alles, was wiederum bedeutet, dass Alice sich nie ändern wird, nie
dazulernen wird ...”
„Du
solltest mal Luft holen”, bremste Sam sie.
Lucy atmete
tief ein und stieß einen heftigen Seufzer aus. „Sosehr ich die Vorstellung auch
hasse, zu dieser Hochzeit zu gehen, ich kann auch nicht zu Hause sitzen während
der Feier. Das sähe so aus, als hegte ich immer noch Gefühle für Kevin oder
wäre eifersüchtig oder so was.”
„Soll ich
dich irgendwohin entführen?”, fragte Sam.
Verwirrt
runzelte sie die Stirn. „Du meinst ... während der Hochzeitsfeier?”
„Ich nehme
dich mit in eine nette kleine Ferienanlage in Mexiko. Du kannst dich nicht zu
sehr über ihre Hochzeit aufregen, wenn du an einem weißen Sandstrand liegst
und
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