Zebraland
Kain seinen Bruder Abel erschlug, zeichnete Gott ihn mit einem Mal für seine Sünde. Du hast auch eine Sünde begangen, Anouk. Und das Verwerflichste ist, wie du sie verdrängst und verleugnest.
Wer nicht hören will, muss fühlen.
Mose sagt: Du sollst dir einen Kreis auf die Innenseite des rechten Handgelenks tätowieren lassen. Ein Mal auf deiner Haut, so groß wie eine Münze.«
Ich musste sofort an D. denken, daran, dass er sich Yasmins Namen auf die Brust hatte tätowieren lassen. Ein Zufall? Konnte es möglich sein, dass Yasmins Geliebter und der Erpresser dieselbe Person waren?
Langsam ließ ich den Zettel sinken: »Oh, Shit.«
Anouk hatte mich die ganze Zeit gebannt beobachtet, als wartete sie auf mein Urteil. Sie ließ die Schultern hängen. Da begriff ich, dass ein Teil von ihr wirklich geglaubt hatte, ich sei Mose. Dass sie gehofft hatte, ich könnte ihr die furchtbare Aufgabe erlassen. Ein Tattoo gegen ihren Willen. Das grenzte an Körperverletzung.
»Tut mir leid für dich, Anouk«, murmelte ich und legte ihr behutsam die Hand auf die Schulter, als könnte sie bei der Berührung zerbrechen. »Es ist okay, Angst zu haben. Ich habe jedenfalls ’ne Heidenangst vor dieser ganzen Sache. Aber weißt du, was?«
Anouk wandte mir ihr verheultes Gesicht zu. »Das ist besser, als gar nichts zu fühlen.«
»Wolltest du vielleicht deshalb unbedingt das Tagebuch behalten?«
»Ja, glaub schon«, antwortete ich. Es war schwierig, die Gründe dafür in Worte zu fassen. »Deswegen sitz ich auch oft hier beim Zebragehege. Das Zebra hat Yasmin viel bedeutet, ich hab’s gelesen. Mehr darüber zu erfahren, wer sie wa r … mich mit ihr auseinanderzusetze n … das ist wichtig für mich. Es ist, als würde dadurch ein Stück von ihr weiterlebe n … in meiner Erinnerung. Und das hilft mir irgendwie.« Ich seufzte. »Klingt ganz schön behämmert, oder?«
»Nein«, sagte Anouk nachdenklich. »Überhaupt nicht.«
»Wenigstens einer, der mich versteht.«
»Ich werde noch mal mit den anderen reden.«
»Wenn du meinst, dass das was bring t …«, brummte ich.
»Ja, du wirst schon sehen. Philipp ist zwar stur, aber er ist kein Dummkopf.« Sie stand auf, um zu gehen. »Ach, Ziggy?« Anouk wandte sich noch einmal zu mir um. »Ist es schwer?«
»Was?«
»Sich zu erinnern.«
Ich dachte nach. »Ich finde, vergessen ist schwerer.«
Nachdem Anouk gegangen war, blieb ich noch eine Weile sitzen und dachte darüber nach, was sie erzählt hatte.
Was war dein schönstes Erlebnis mit Yasmin?
Wie wir zusammen Musik gehört haben, verbunden durch die Kabel eines MP 3-Players.
Welche Eigenschaft hat Yasmin in deinen Augen besonders ausgezeichnet?
Dass sie versucht hat, ihren eigenen Weg zu finden. Zwischen Schwarz und Weiß.
Was würdest du ihr noch sagen wollen?
Es tut mir leid.
Judith
»Gestern war ich da«, sagt Anouk. Die ganze Zeit, während sie spricht, nimmt sie das Wort »Tattoo« nicht ein einziges Mal in den Mund. »Ich wollte es machen lassen, wirklich! Aber dann hat die Frau gefragt, ob ich ganz sicher bin, dass ich das auch will, weil ich so deprimiert aussah. Und dan n … dann habe ich den Kopf geschüttelt und bin rausgerannt.«
Anouk lässt ihr langes Haar über das Gesicht fallen, als schäme sie sich, uns anzusehen: »Ich schaff das nicht allein, bitt e … einer von euch muss mitkommen!«
»Natürlich«, seufzt Philipp. »Ich wär schon gestern mitgekommen, wenn d u …«
»Nein, nicht du!«, unterbricht Anouk ihn mit einer Heftigkeit, die mich erstaunt. Sie greift über den Tisch nach meiner Hand: »Bitte, Judith, kannst du nicht mitkommen? Ich möchte, dass ein Mädchen dabei ist!«
Ich nicke zögernd.
Anouk hat sich für ein kleines Tattoo-Studio in der Altstadt entschieden. Man kann durch das Schaufenster in einen hellen Vorraum blicken, in dem Rattanstühle für wartende Kunden stehen. Obwohl dort im Moment niemand sitzt, schleichen wir dreimal am Schaufenster vorbei. Offenbar muss Anouk erst Mut sammeln, den Laden zu betreten. »Du musst mich für eine total oberflächliche Pute halten, Judith, dass ich hier so ein Theater mach e … nach allem, was passiert ist«, murmelt sie unglücklich.
Ich zucke die Achseln. »Es ist für keinen von uns leicht.«
Als wir endlich reingehen, bimmelt eine kleine Glocke über der Tür. Aus dem Hinterzimmer kommt eine etwa vierzigjährige Frau und tritt hinter die Theke. Im ersten Moment denke ich, dass sie lange Netzhandschuhe trägt, durch die ihre
Weitere Kostenlose Bücher