Zebraland
konnte er es auf die paar Meter verfehlen? Ich war fassungslos. Als ich in Philipps Gesicht sah, erwartete ich, es verzerrt vor Enttäuschung und Wut über seinen Fehlschuss zu sehen. Aber sein Blick war ganz ruhig, beinahe gelöst. Als wäre eine schwere Last von ihm abgefallen.
In diesem Moment ging mir ein Licht auf: Philipp hatte das Zebra gar nicht verfehlt. Er hatte mit Absicht danebengeschossen.
Wahrscheinlich hätte ich sauer auf ihn sein sollen, aber stattdessen merkte ich, wie mein Mund sich zu einem breiten Grinsen verzog: Ich war so unheimlich erleichtert, dass wir das Zebra nicht umgebracht hatten. Dass es noch lebendig war.
Es war das erste Mal, dass ich so etwas wie Sympathie für Philipp empfand. Wir grinsten uns an.
In diesem Moment begann hinter Phil jemand langsam zu klatschen.
Judith
Ich trete aus dem Schatten der Büsche und gehe auf die beiden zu. Ziggy guckt ziemlich verdutzt, weil ich klatsche. Phil dreht sich zu mir um.
»Hey, Hexe. Ziemlich dumm, das Zebra nicht zu erschießen, oder?«, fragt er, aber er lächelt dabei. Und in diesem Lächeln erkenne ich etwas von dem Jungen wieder, der mal mein bester Freund gewesen ist.
Offensichtlich ist Phil doch nicht bereit, über Leichen zu gehen.
»Nein, finde ich gar nicht«, antworte ich und lächle zurück. Er hat die Probe bestanden. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für uns.
Mein Herz klopft, als sei ich weit gerannt. Wir stehen ganz nah beieinander. Da raffe ich all meinen Mut zusammen, nehme Phils Gesicht in meine Hände und küsse ihn.
Einen Augenblick ist es perfekt.
Phils Lippen fühlen sich so warm an, dass ich das Gefühl habe zu schmelzen.
Aber dann weicht er vor mir zurück und macht sich los.
»Ju-Judith!« Er starrt mich ungläubig an, berührt mit den Fingern seinen Mund. Als sei er nicht sicher, ob er meinen Kuss festhalten oder fortwischen soll.
»Was s-s-sollte das denn?«, fragt er. Typisch.
»Was wohl.«
»Abe r … d-du bist wie eine Sch-Schwester für mic h …«, stammelt er. »Außer-d-de m … ich b-b-b-bin doch mit Anouk zu-s-s-sammen.«
Ich habe einen Kloß im Hals. »Ach, ja? Sah mir vorhin aber nicht mehr danach aus«, antworte ich trotzig.
»Das ändert nichts an meinen G-G-Gefühlen, Judith.«
Er sieht wohl, wie sehr mich das getroffen hat, denn er redet schnell weiter, versucht es mir zu erklären, obwohl ich es jetzt gar nicht mehr hören will.
Ich bin so gedemütigt, so wütend, in mir hämmert nur noch ein Gedanke: diesen ruhigen Ausdruck von Überlegenheit in Philipps Gesicht zu tilgen. Ihm wehzutun, wie er mir wehgetan hat.
Ich lache. Mein Lachen klingt schrill und hysterisch, ich merke, wie ich langsam die Kontrolle über mich verliere: »Gefühle? Ausgerechnet du redest von Gefühlen? Dir ist doch scheißegal, wie es anderen geht! Du betest dein mickriges, kleines Leben an und opferst bereitwillig alles, was dir dabei in die Quere kommt!«
Er verzieht angewidert das Gesicht: »Du hörst dich schon genauso an wie Mose, wenn du so redest, Judith.«
»Philipp, ich bin Mose!«, bricht es aus mir heraus. Dabei stoße ich ihm so heftig gegen die Brust, dass er hinfällt.
Einen Moment ist es vollkommen still, nur der Wind raschelt durch die letzten verdorrten Blätter an den Bäumen.
»Was?!« Das ist Ziggy. Ich hatte ganz vergessen, dass er auch noch da ist. Er ist in einigem Abstand zu uns stehen geblieben. Verstört huschen seine Blicke zwischen Philipp und mir hin und her, als versuchte er verzweifelt zu begreifen, was hier vor sich geht. »D u … du bist Mose, Judith? Nein, da s … das kann doch nicht sein!«
Als ich nicht antworte, wendet Ziggy sich an Philipp: »Das kann doch nicht sein, dass sie Mose ist?« Seine Stimme klingt fast flehend. Offensichtlich wartet er darauf, dass Philipp wie immer die Anführerrolle übernimmt, eine Erklärung abgibt, die er versteht, die alles wieder in Ordnung bringt.
Aber Philipp hat es die Sprache verschlagen. Stumm kniet er im Gras, das vom Reif ebenso weiß ist wie sein Gesicht. Er starrt mich an, als sei ich gerade vor seinen Augen gestorben und als böser Geist wiedergekehrt.
»W-w-w-warum, Ju-Ju-d-dith?«, bringt er schließlich heraus.
Mit zitternden Fingern taste ich in meiner Hosentasche nach den beiden Zetteln, die ich schon seit Wochen mit mir herumtrage, die Liste mit Moses fünf Aufgaben. Und Philipps alte Liste. Ich lese sie mit lauter, klarer Stimme vor wie eine Anklageschrift:
Was Phil in zehn Jahren erreicht haben
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