Zebulon
verloren, doch im nächsten Moment sah er sie in einen Hof einbiegen.
Er blieb im Dunkeln, als sie an die Tür des zweistöckigen Holzhauses mit den vergitterten Fenstern klopfte. Wieder einmal sah er sich vor eine Wahl gestellt. In der Vergangenheit hatte er seinen Kurs nach seinem Instinkt und bestimmten Zeichen ausgerichtet: ein Wechsel der Windrichtung, ein Lagerfeuer am Horizont, Spuren im Schnee. Jetzt aber empfand er nur Angst.
Als die Tür aufging und Delilah im Inneren verschwand, ging er weiter durch die Gasse zum Hafen hinunter. Er konnte nach Süden reiten, nach Mexiko, dachte er. Aber diese Reise hatte er schon einmal gemacht. Und jetzt war ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Gesucht. Tot oder lebendig. Besser, er versuchte sein Glück auf den Goldfeldern. Er hatte Dorfheimer genug abgenommen, um sich einen anständigen Claim zu kaufen. Oder er konnte nach Oregon oder Alaska rauf. Er wusste, wie man von der Hand in den Mund lebt. Patrouille reiten, Vieh treiben, Pferde zureiten – alles möglich, solange er nur in Freiheit war und keiner ihn kannte. Er schaute über den Hafen, wo Ankerlichter von Hunderten von Schiffen blinkten. Die Stadt quoll über von Aufträgen, die erledigt sein wollten. Wenn aus einer Sache nichts wurde, gab es noch zehn andere.
Zum Teufel mit ihr, dachte er und kehrte dorthin zurück, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er drehte sich in dem Hof eine Zigarette, dann drückte er sie aus und klopfte an die Tür.
Ein Chinese machte auf und musterte ihn durch Brillengläser so groß wie Vogeleier. Sein langer schwarzer Zopf reichte ihm bis unter die Taille, sein zaundürrer Körper war in ein braunrotes seidenes Gewand gehüllt.
Zebulon folgte ihm in einen engen, niedrigen Raum, der von blakenden Kerzen erhellt wurde. Im Dämmerlicht erkannte er eine Couch und eine Reihe von Sesseln mit schattenhaften Gestalten, die er für Prostituierte hielt.
»Du will?«, fragte der Chinese und schnippte mit den Fingern.
Ein knabenhaftes Mädchen, nicht älter als vierzehn, erhob sich aus einem der Sessel und kam auf Holzsandalen auf ihn zugeklappert; ihren mageren Körper umhüllte ein dünnes gelbes Hemdchen.
»Junge Freud«, sagte der Chinese. »Kleine Knospen. Wie Pfirsich. Gut für Herz.«
Seine Aussprache war seltsam präzise, als hätte er sein Englisch bei Missionaren gelernt.
»Ich bin auf der Suche nach einer Frau«, sagte Zebulon. »Sie ist ein Mischling. Nicht weiß und nicht schwarz. Langes schwarzes Haar.«
Der Chinese schüttelte den Kopf. »Delilah nicht zu kaufen.«
»Nicht kaufen«, beharrte Zebulon. »Nur reden.«
Der Chinese schlug die Hände zusammen, als wollte er einen Moskito erschlagen. »Zwanzig Dollar. Aber nicht berühren. Nur rauchen.«
Zebulon zahlte und folgte dem Chinesen in ein Hinterzimmer, in dem es nach gerösteten Kastanien roch. Auf einem niedrigen Tischchen standen eine Lampe und mehrere Schalen mit schwarzer Opiumpaste. Ausgemergelte Männer lagen in Reihen auf schmalen Pritschen, die Köpfe auf polierten schwarzen Holzklötzen. Delilah lag auf einer der unteren Pritschen und zog an einer langen Bambuspfeife, die eine alte Chinesin in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid für sie angezündet hatte.
»Träumst du mich?«, fragte sie lächelnd, als er sich neben sie legte. »Oder träume ich dich? Oder werden wir beide von jemand anderem geträumt?«
Sie zog an der Pfeife, dann atmete sie langsam aus.
»Wo ist meine Kette?«
Es dauerte eine Weile, bis es ihm einfiel. »Gestohlen.«
»Wundert mich nicht. Auch alles andere wurde mir gestohlen oder weggenommen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als in Verluste zu investieren … Fragst du dich manchmal, wer zu wem gehört …? Oder warum? Oder warum die meisten Menschen lieber auf ihren Tod zustürmen, statt ihm auszuweichen?«
Die Alte bot ihm eine Pfeife an, dann hielt sie einen langen Draht mit einem Klümpchen Opiumharz am Ende hoch. Nachdem er das Harz angezündet hatte, bedeutete sie ihm, er solle an der Pfeife ziehen. Er wiederholte die Prozedur noch mehrmals, dann drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Delilahs Stimme trieb auf ihn zu wie ein Blatt auf einem träge fließenden Fluss. »Wenn sie dir die Füße reibt, schwebst du in der Luft.«
Er schwebte nicht. Er war ein Frosch unter einem riesigen Daumen, bis er einen Finger vor seinen Augen hin und her bewegte.
»Ich habe Ivan betrogen«, sagte Delilah. »Und dich betrogen. Aber wenn du auf dem Schiff
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