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Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
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wollen.«
    Sie drehten sich beide zur Bühne um und betrachteten Delilah, die zu ihrem Tisch herübersah und ein weiteres Lied sang:
    So I’ll pack my clothing
    And in search of him I’ll go
.
    I’ll cross the wide, wide ocean
    Through storm winds and snow
.
    And never shall I marry
    Until the day I die
.
    So I’ll die broken-hearted
    For my old mountain boy
.
    Die nächste Strophe sang sie auf Portugiesisch, oder vielleicht war es auch ein ganz anderes Lied. Sie dehnte die Vokale und schloss jeden Vers mit einem melancholischen Klagelaut ab, der langsam aus dem Bauch in ihre Kehle aufstieg. Als sie endete, weinten mehrere Männer, ohne sich ihrer Tränen zu schämen, außerstande, ihre geheimen Sehnsüchte und Ängste zu beherrschen. Ein Mann feuerte einen Schuss an die Decke ab. Andere stellten sich auf ihre Stühle, klatschten und warfen Münzen und Nuggets auf das Podest, die von den Musikern aufgelesen wurden: Die Hälfte behielten sie für sich, den Rest gaben sie Delilah.
    Zebulon sah zu, wie sie sich langsam durchs Publikum schlängelte, als müsste ihr müder, zerbrechlicher Körper gegen starken Wind ankämpfen.
    »Wie erstaunlich!«, sagte sie zu Zebulon, als sie sich zu ihm setzte. »Du hast bei der deutschen Marine angeheuert. Und bist schon Offizier. Deine Uniform müsste allerdings ein bisschen ausgebessert werden.« Sie schenkte sich einen Drink ein. »Stimmt es, dass sich die Deutschen Kalifornien und Oregon einverleiben wollen, zusätzlich zu Mexiko und Alaska? Oder waren das die Engländer?«
    Er sah sie unverwandt an, bestürzt über ihre Magerkeit und die tiefen Falten um Mund und Augen.
    »Ich weiß«, seufzte sie. »Ich weiß, genau hinsehen darf man bei mir nicht mehr. Die
joie de vivre
eines Mädchens verflüchtigt sich so leicht, wenn sie sich mit Singen ihr Abendessen verdienen muss.« Sie schüttelte den Kopf. »Und was ist mit dir? Besonders gut siehst du auch nicht aus.«
    Sie sah einem nur gut einen Meter großen Kellner entgegen, der durch den Saal auf ihren Tisch zukam, ein Tablett über seinem Gnomenkopf balancierend.
    »Ich hatte gehofft, jemand wäre auf ihn getreten«, sagte sie müde, als der Liliputaner eine Flasche Whiskey und zwei Gläser auf den Tisch stellte.
    Der seltsame Zwerg nickte Zebulon zu und sprach auf Portugiesisch mit Delilah.
    »Toku ist verwirrt deinetwegen«, sagte sie zu Zebulon. »Warum, weiß ich nicht. Warum sagst du es uns nicht, Toku? Wir haben an diesem Tisch keine Geheimnisse. Oder nur sehr wenige.«
    Der Zwerg zeigte auf Zebulon. »Sag deinem Freund, er soll die Finger vom Glücksspiel lassen«, sagte er in abgehacktem Englisch, »sonst endet er irgendwann im Straßengraben. Wenn du weißt, was ich meine.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte sie.
    Er zuckte die Achseln und nahm sein Tablett. »Du weißt genau, was ich meine.«
    »Kommst du zu unserer Verabredung?«, fragte Delilah.
    »Wenn ich hier fertig bin. Nicht eher. Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, drei Meerschweinchen zu finden? Und nicht nur irgendwelche drei Meerschweinchen. Sie müssen alle gleich alt sein und die gleiche Farbe haben. Und die Mondphase muss stimmen und noch etliche andere Sachen, von denen du keine Ahnung hast. Wenn du mich noch einmal fragst oder mich auch nur schief anschaust, redest du künftig nur noch gegen eine Wand.«
    Er drehte sich um und ging durch den Saal zurück wie ein betrunkener Matrose auf einem schlingernden Schiff.
    »Ein Freund von dir?«, wollte Zebulon wissen.
    »Er war auf einem englischen Schiff so eine Art Haustier oder Hofnarr für den Grafen«, erklärte sie. »Als alle zu den Goldfeldern gezogen sind, ist er hiergeblieben. Er hat mich singen gehört und gesagt, er hätte mich in einem früheren Leben gekannt. Er ist Afrikaner. Jedes Mal, wenn ich ihn frage, von welchem Stamm er ist, sagt er etwas anderes: Baule, Bwiti, Pygmäe. Was immer er ist, er hat bemerkenswerte Fähigkeiten und sieht Dinge, die andere nicht sehen können. Ich glaube, ich habe eine Schwäche für Menschen mit dem zweiten Gesicht.«
    Sie machte Anstalten, ein Glas Whiskey in einem Zug auszutrinken, dann besann sie sich. Sie stand auf, hielt sich kurz an der Stuhllehne fest und ging dann langsam aus dem Saal.

E R HÄTTE SIE GEHEN LASSEN SOLLEN , das wusste er, aber er folgte ihr trotzdem, blieb jedoch außer Sichtweite, während sie durch eine Seitentür in den knöcheltiefen Schlamm einer Gasse hinaustrat. Einmal dachte er, er hätte sie aus den Augen

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