Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zebulon

Zebulon

Titel: Zebulon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudolph Wurlitzer
Vom Netzwerk:
geblieben wärst, hätte Ivan dich umgebracht. Er hatte es schon einmal probiert. In New Mexico. Oder war es in der Türkei?«
    Er erinnerte sich, wie er als kleiner Junge eine Adlerfeder gesehen hatte, die aus einem blutroten Himmel herab getrudelt und dann sanft auf seinem Kopf gelandet war.
    »Das ist ein Zeichen«, hatte sein Vater gesagt, nachdem er den Adler erlegt hatte. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was es bedeutet. Aber es ist besser, nicht drüber nachzudenken.«
    »Ist dir klar, dass finstere Geister auf der Suche nach uns sind?«, fragte Delilah. »Nach Ivan … und nach mir … und nach dir … Sie wissen nicht, was sie sonst tun sollen. Sie machen Jagd auf Beute, und wenn sie Beute finden, verschlingen sie sie, als wollten sie sich in den verwandeln, den sie töten.«
    Sie lagen nebeneinander, ihre Körper berührten sich kaum, sie rauchten und schlüpften jeder in des anderen Träume und wieder hinaus. Er fühlte sich in der Schwebe, irgendwo zwischen Himmel und Erde.
    »Oder überhaupt nirgendwo«, sagte er zu den Fingern, die über seine Füße strichen.
    Der Gedanke war angenehm – nirgendwohin unterwegs zu sein. Nie mehr weiterzugehen. Nie mehr zu jagen. Nie mehr einen Ort einem anderen zuliebe zu verlassen. Oder eine Frau einer anderen wegen.
    Ihre Stimme fand ihn wieder. »Aus San Francisco sind wir nach Norden geritten, Ivan und ich … So wild, so viele Flüsse zu überqueren, so viele Waffen und Pferde. Ivan hat mehr Gold gefunden, als irgendwer jemals brauchen würde. Dann hat er alles beim Kartenspiel verloren. Und mich dazu … So viele Männer … ich war weit und breit die einzige Frau … brutale Männer … ich wollte dich nie wiedersehen … du wirst wegen Mord gesucht … Pferdediebstahl … Bankraub … ein sehr gefährlicher Mann. Als ich dich in dem mexikanischen Hotel gesehen habe, dachte ich, du wärst hinter mir her … Was ich nicht wusste: Ich war auch hinter dir her.«
    Er rollte sich zusammen wie ein verängstigtes Tier, den Arm über den Augen, das Herz hämmernd, als säße es in einer Falle.
    Eine alte Frau in der zugeknöpften Segeltuchjacke eines Mannes beugte sich herab, in der Hand eine Pfeife, und lud ihn ein, daran zu ziehen, in einem anderen Traum zu verschwinden …
    »Von überallher kamen Männer, um mich singen zu hören«, sagte Delilah. »Dann hat mich Ivan wiedergefunden. Das gelingt ihm immer, weißt du. Und dann geht er.«
    In einem anderen Raum spielte jemand Flöte, und eine Frau sang von Liebe und einer Reise, die nie zu Ende geht.
    »Jetzt wird Ivan sterben. Als er mich in London verließ, hat mich ein Engländer bei sich aufgenommen. Ein Gesangslehrer. Ein Adeliger … Ich habe eine Schwäche für Adelige. Sie sind so unnahbar und unerreichbar … Er hat mir Operngesang beigebracht … Englisch sprechen und lesen … Jedes Mal, wenn ich ihn verlassen wollte, wurde er sehr grausam.«
    Am anderen Ende des Raums massierte das chinesische Mädchen die Füße der Sängerin, oder vielleicht waren es auch seine eigenen Füße. Ihr Duft gab ihm das Gefühl, mitten in einem Garten zu liegen. Oder auf einem Friedhof.
    »Ivan hat mich erwischt, wie ich mit dem Engländer geschlafen habe«, fuhr sie fort. »Er wollte mich umbringen. Er hatte im Gefängnis gesessen. In Russland … Sie hatten ihn gefoltert … Er hat Narben auf den Wangen von brennenden Zigaretten. Er ist gar kein Graf, weißt du … Er ist ein Spion und ein Schuft und ein Geschäftsmann. Er hat gelächelt, als er den Engländer in den Kopf geschossen hat.«
    Er fragte sich, ob es Ivan war, der in Panchito auf ihn geschossen hatte. Oder war es Delilah gewesen? Oder jemand anders? War er in Wirklichkeit längst tot und träumte sein Leben und wie es gewesen war oder hätte sein können? Er war auf einer Reise. Dessen war er sich sicher. Einer Reise, die er nicht verfolgen konnte, ohne Anfang und Ende, ohne Grenzen, an die er sich hätte halten können.
    Wieder näherte sich ihre Stimme: »Als meine Eltern gestorben waren, habe ich bei meiner Großmutter gelebt … Sie war über hundert Jahre alt … Ich war in einem Traum zu ihr gekommen, bevor ich geboren wurde … Weil ich gemischtes Blut vieler Rassen habe, hat sie gesagt, ich dürfe nicht zwischen die Welten geraten … Ich habe nie auf sie gehört, und jetzt ist es mein Schicksal … zu lernen, wie man stirbt, immer und immer wieder … In meinem früheren Leben … ich kann mich nicht erinnern … Sie hat mir gesagt, ich soll

Weitere Kostenlose Bücher