Zehn Milliarden (German Edition)
nichts Ungewöhnliches.« Julie schien zu überlegen.
»Ihre Tasche.«
»Was meinst du?«
»Ist ihre Handtasche noch da?« Er glaubte sich zu erinnern, irgendwo eine Tasche gesehen zu haben, die ihm nicht weiter aufgefallen war. Auf einer Kommode im Korridor fand er sie.
»Ja, hier ist eine Tasche, warte mal.« Er öffnete sie und begriff allmählich, was Julie meinte. »Du grüne Neune, Julie. Es ist alles da, ihr Handy, Brieftasche, Kreditkarten, Agenda.« Die stupsnasige, matt glänzende Pistole und das Päckchen Kondome erwähnte er nicht.
»Keine Frau geht jemals ohne ihre Tasche aus dem Haus«, sagte Julie mit ernster Stimme. »Nick, es sieht ganz nach ...«
»Einem Verbrechen aus, ich hab’s begriffen. Mein Gott, Julie, sie muss völlig überrascht worden sein, jedenfalls gibt es keine Spuren eines Kampfes.« Sie versuchte, ihn zu beruhigen.
»Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, Schatz. Du hast etwas von einer Agenda gesagt? Ich denke, da findest du sicher etwas, eine Telefonnummer, einen Kontakt, der dir weiter hilft.« Er hatte das Büchlein schon aufgeschlagen und blätterte darin.
»Ja - danke - ich melde mich wieder«, antwortete er gedankenverloren.
»Ich liebe dich.« Er beendete die Verbindung und begann, Emilys Terminkalender zu studieren. Bis vor fünf Tagen fand er praktisch jeden Tag einen oder zwei Einträge, die meisten abends, alles Männernamen, Peter, Kumar, Liang, François und keine Telefonnummern. Die Treffen schienen oft in Hotels stattzufinden. Auch der letzte Eintrag ›20:30 Werner, Carlton L‹ unterschied sich in nichts von den anderen. Das schwarze Büchlein führte nicht weiter, doch die täglichen abendlichen Treffs mit Männern in Hotels verunsicherten ihn zutiefst. Er verstand zwar nichts vom Beruf einer Übersetzerin, aber dieser Terminkalender entsprach sicher nicht diesem Profil. Er leerte den Inhalt der Tasche auf den Tisch und fand nach einigem Suchen einen Satz von Visitenkärtchen im Etui der Kreditkarten. ›Rose’s Exclusive Escorts‹, warum zum Teufel sollte seine Schwester ein Bündel Visitenkarten eines Escortservices mit sich führen? Er war versucht, die angegebene Telefonnummer sofort anzurufen, doch dann hatte er eine andere Idee. Er schaltete Emilys Handy ein und hatte nach kurzer Zeit Zugriff auf ihr Telefonbuch. Eine Rose fand er nicht, wohl aber einen Eintrag unter Roos, Roos De Vries, und zwar mit einer Nummer, die mit den gleichen Ziffern begann wie die der exklusiven Escortgirls. Vielleicht wusste diese Roos etwas über Emilys Verbleib.
Eine angenehm dunkle Frauenstimme meldete sich.
»Mrs. Roos De Vries?«
»Ja, mit wem spreche ich?«
»Mrs. De Vries, mein Name ist Nick Sears. Ich bin der Bruder von Emily Sears. Bitte entschuldigen Sie die Störung ...« Die Frau unterbrach ihn.
»Oh, Gott sei Dank. Endlich meldet sich jemand. Wo ist Emily? Geht es ihr gut?« Er sackte noch mehr in sich zusammen, als hätte ihn der letzte Funke Hoffnung verlassen.
»Das - dasselbe wollte ich Sie fragen«, stammelte er. Eine Weile blieb es still in der Leitung.
»Wo sind Sie jetzt?«
»In ihrer Wohnung.«
»Hören Sie, ich kann nicht lange weg hier, aber wir sollten uns unbedingt treffen. Vielleicht finden wir gemeinsam heraus, was mit ihr los ist.«
»Wo?«, fragte er nur mit erstickter Stimme.
»Im Café Roode Leeuw am Damrak, in einer halben Stunde, O. K.? Ich bin die mit dem roten Hut.« Nick schöpfte wieder Hoffnung. Wenigstens jemand zum Reden. Er wollte so viele Informationen wie möglich sammeln, bevor er den unvermeidlichen Gang zur Polizei antrat. Er packte Emilys Sachen wieder in die Tasche, klemmte sie unter den Arm und verließ das Haus. Im Café brauchte er nicht lange zu suchen, obwohl das Haus gut besetzt war. Roos De Vries konnte man nicht verfehlen. Die große, schlanke, makellos und doch zurückhaltend geschminkte Frau mit ihrer eigenwilligen rötlich schimmernden Pagenfrisur und dem kecken Hütchen schien eben einer Seite von Vogue entstiegen zu sein. Ein Supermodel ohne das hohle Lächeln im Gesicht. Sie begrüßte Nick mit einem Ausdruck ernster Sorge.
»Mr. Sears, ich bin wirklich froh, dass sie hier sind.«
»Nick, nennen Sie mich einfach Nick.«
»Rose«, lächelte sie, wurde aber sogleich wieder ernst. »Emily war stets außerordentlich zuverlässig, wissen Sie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie freiwillig tagelang nichts von sich hören lässt. Sie hat auch alle Termine sausen lassen.«
»Sie arbeitet - für
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