Zehn Milliarden (German Edition)
Scham wich Ernüchterung, die bald in grenzenlose Enttäuschung, Empörung und Katzenjammer umschlug. Seine Wut richtete sich ebenso gegen sich selbst, seine eigene Naivität, wie gegen Julie. Die erste Begegnung im Waschsalon, die Flucht vor dem Stalker, alles Theater! Die packenden und engagierten Gespräche, die Anteilnahme am Schicksal seiner Schwester, die verliebten Blicke, die Ekstase in Vegas, auch nur gespielt? Wie konnte sie ihm so etwas antun? Er versuchte, klar und nüchtern zu denken. Es gelang ihm nicht. Der Verdacht, dass seine geliebte Julie ihn die ganze Zeit schamlos hintergangen und ausgenützt hatte, wurde zur Gewissheit, je länger er versuchte, sich das Gegenteil einzureden. Im Verzeichnis der IARPA Mitarbeiter fand er schließlich den Wespenmann. Er hieß Ross Landon und arbeitete direkt unter Joe Gifford. Zur gleichen Abteilung gehörte auch Julie, und zwar seit drei Jahren, wie er im ›who is‹ nachlesen konnte. Nein, es gab nicht den geringsten Zweifel: man hatte ihn nach Strich und Faden hereingelegt.
Unbewusst wie ein Schlafwandler ging er zum Waschbecken in der Toilette, drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt den Kopf in den Strahl, bis er glaubte, wieder bei Verstand zu sein. Mit einem Schlag war sein Leben, seine Zukunft, ein Scherbenhaufen. Ein verdammter Scherbenhaufen ; das Echo dieser Worte wollte nicht mehr aus seinem Kopf. Er ging die paar Schritte den Flur hinunter zu Julies Büro und setzte sich an ihren peinlich sauber aufgeräumten Schreibtisch. Die Schubfächer waren verschlossen. Würde er sie eben aufbrechen, er hatte jetzt keine Skrupel mehr. Vielleicht hatte sie den Schlüssel auch einfach in den Auszug mit dem Schreibmaterial gelegt. Er hatte schon mehrmals beobachtet, dass sie es mit der Sicherheit nicht so genau nahm. Die schmale oberste Schublade ließ sich leicht herausziehen. Nur ein paar Bleistifte, Kugelschreiber, Radiergummi, Büroklammern, kein Schlüssel, aber ein kleiner Anhänger, der sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Was aussah wie ein Schlüsselanhänger war ein unscheinbares Gerät mit einer Digitalanzeige, die periodisch wechselnde achtstellige Zahlenkombinationen zeigte: eine Secure-ID, wie sie im elektronischen Banking zur sicheren Anmeldung verwendet wurde. Verwundert nahm er den Anhänger heraus. Er hatte das Ding noch nie bei Julie gesehen. Wenn sie ein geheimes Bankkonto unterhielt, warum hier im Büro? Das graue Gehäuse verriet nichts über den Zweck des Geräts. Er schaltete ihren Computer ein und wartete ungeduldig, bis er hochgefahren war. Die Maske für die Anmeldung erschien, vorbereitet mit Julies Benutzerkennung. Er musste nur noch ihr Passwort eingeben. Nick&Julie3 war das letzte, das er zufällig gesehen hatte. Nick und Julie, welche Ironie , dachte er bitter. Seither waren etwa vier Monate vergangen, also musste sie das Passwort inzwischen mindestens einmal gewechselt haben - das System wollte es so. Hoffentlich war sie nachlässig geblieben bei der Wahl ihrer Passwörter, denn er hatte nur drei Versuche, bevor ihn das System aussperren würde. Er versuchte es: Nick&Julie4 . Bingo! Er war in ihrem Account. Die Dateiverzeichnisse, die meisten ohnehin projektbezogen und mit bekannten Namen, interessierten ihn nicht. Er hatte einen Verdacht und suchte nach Softwarekomponenten, die etwas mit dem Begriff ›VPN‹, virtual private network, zu tun hatten.
Es klopfte und die Tür ging auf. Nick erschrak so sehr, dass er aufsprang und zu zittern begann.
»Noch kein Feierabend, Dr. Sears?« Im Türspalt erschien das freundliche Gesicht des Nachtwächters, dem er schon hundert Mal begegnet war und dessen Namen er sich nie merken konnte.
»Ja - nein - hallo«, stammelte er.
»Alles O. K.?« Nick machte ein zustimmendes Handzeichen und der Mann zog sich zurück. Kein Wunder, werde ich langsam paranoid , dachte er und setzte sich wieder. Die Suche war erfolgreich. Er fand ein Programm, das ein solches privates Netzwerk aufbauen konnte. Er startete es, und wie er vermutet oder gehofft hatte, erschien ein neues Anmeldebild.
»US Air Force«, murmelte er überrascht, als er das Logo sah. Das Programm verlangte wie erwartet die Eingabe eines Passworts, doch diesmal war es komplizierter. VPN-Verbindungen waren speziell gesichert und verschlüsselt. Man musste sich normalerweise mit einer Kombination aus dem Passwort und einem stetig automatisch wechselnden Zahlencode der Secure-ID anmelden. Er hatte nichts zu verlieren und versuchte sein
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