Zehn Milliarden (German Edition)
Manchmal, in letzter Zeit häufiger, brauchte sie die paar Minuten am Morgen, allein im Gärtchen vor dem Bungalow, den sie mit Nick bewohnte. Sie vergrub die Hände tiefer in den Taschen der dicken Jacke. Es war wieder kälter geworden nach der klaren Nacht. Fröstelnd beobachtete sie die Wasserläufer, die zahlreich auf dem Teich unterwegs waren und kleine Wellenkreise erzeugten. Eine Amsel zwitscherte unermüdlich in voller Lautstärke und schien sich über die ersten wärmenden Sonnenstrahlen zu freuen . Vielleicht geht diese Geschichte doch noch gut aus , dachte sie, ohne wirklich überzeugt zu sein. Vier Monate lang hatte sie nun ihre Aktivitäten für die Flugwaffe vor Nick und dem Team geheim halten können. Vier Monate war alles gut gegangen, wenn sie auch oft eher fadenscheinige Notlügen benutzt hatte, um die notwendige Zeit für Projekt Z aufzubringen. Die neue, revolutionäre Technologie aus Area 52 hatte sie als Frucht ihrer guten Beziehungen zu Berkeley verkauft, und der ahnungslose Nick hatte die Lüge ohne weiteres geschluckt. Zu verlockend waren die Vorteile der neuen Generation von Nanobots.
»Du frierst ja«, sagte Nick, als er aus dem Haus trat. Er atmete tief durch in der frischen Morgenluft, schlenderte zum Teich und küsste seine Geliebte. »Guten Morgen. Können wir?« Sie nickte, hakte sich bei ihm unter und sie spazierten zum nahen Joggingpfad, der geradewegs zu ihrem Bürokomplex führte.
»Hast du eine Ahnung, was Emily und Vic so treiben?«, fragte sie, um sich von den trüben Gedanken abzulenken.
»Nur, was wir schon wissen. Die beiden sind dauernd auf Reisen, der zweite Honeymoon, oder so ähnlich. Ich bin froh, dass sie sich wieder vertragen.«
»Ja, nach allem, was deine Schwester durchgemacht hat. Sie ist eine starke Frau.«
»Und eigenwillig. Sie kann ganz schön nerven.«
»Wie ich, wolltest du wohl sagen?«
»Deine Worte«, grinste er. Wie jeden Morgen begann ihr Arbeitstag in der bescheidenen Cafeteria. Für Nick ersetzten die informellen Gespräche mit Kollegen am Frühstückstisch manch mühselige Sitzung. Schon mehrmals hatte das Team hier wertvolle Impulse für die weitere Arbeit erhalten, wie heute. Die ehrgeizige medizinische Assistentin, die in Julies Gruppe arbeitete, glänzte nicht zum ersten Mal mit einem anschaulichen Kurzreferat über letzte Erkenntnisse der Hirnforschung. Nick hatte sie bisher nie sonderlich ernst genommen, doch diesmal war ihr seine volle Aufmerksamkeit sicher. Zwar war auch ihm seit längerem bekannt, dass Hirnzellen auch bei Säugetieren, und damit beim Menschen, die Fähigkeit besitzen, sich zu erneuern und neu zu organisieren. Die alte Lehrmeinung, Hirnzellen seien beim erwachsenen Menschen fest miteinander verknüpft und strukturiert, musste die Wissenschaft schon vor Jahren über Bord werfen. Man nahm bisher an, dass sich diese Erneuerung im entwicklungsgeschichtlich älteren Teil des Gehirns abspielte, im Kleinhirn zum Beispiel, das für Bewegungsabläufe zuständig ist. Jetzt aber war erwiesen, dass auch der Neokortex, der jüngste Teil der Hirnrinde, der Verstand, Verhalten, lernen, erkennen und bewusste Entscheidungen steuert, sich ständig erneuert. Diese Neurogenese, die Fähigkeit der Neuronen zur Selbsterneuerung, schien ein wichtiges Prinzip des Gehirns zu sein.
»Ich glaube, das Thema sollten wir vertiefen«, sagte er zu Julie, als sie die Cafeteria verließen. Sie schien sich mit ähnlichen Gedanken zu beschäftigen, denn sie antwortete ohne zu zögern:
»Könnte die Stabilität der neuen Technologie verbessern.« Das war genau Nicks Hoffnung. Die Lebensdauer und Ausfallquote der Nanobots ließen noch immer zu wünschen übrig. Würden sie es schaffen, das Netzwerk der kleinen Teilchen so zu konstruieren, dass es fehlerhafte Bereiche einfach durch Neuorganisation automatisch ›heilte‹, so wäre ihr Problem gelöst.
»Ich werde die Sache erst mit den Programmierern besprechen. Wir brauchen eine vernünftige Simulation dieses Vorgangs.«
Julies Vorstellung ging noch einen wesentlichen Schritt weiter. Sie malte sich aus, was die Fähigkeit zur Selbsterneuerung für die ungleich komplexere Z-Box bedeutete. Nach ihrer Einschätzung dürften die Neuronenartigen Strukturen in diesem blauen Titanwürfel über viele Lebenszyklen immer perfektere Muster bilden, ähnlich einem Evolutionsprozess. Die Vorstellung war ebenso packend wie beängstigend. Sie zog sich in ihr Büro zurück und rief Wegener über eine sichere Leitung
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