Zehn Milliarden (German Edition)
sie sich etwas beruhigt hatte, trug er sie kurzerhand ins Schlafzimmer. Willenlos ließ sie sich ins Bett legen. Sie wagte nicht, ihn anzuschauen, als er sie liebevoll zudeckte. Er küsste sie auf die Stirn und verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Er hatte verstanden, dass sie jetzt allein sein musste. Er stellte den Lilienstrauß in den Champagnerkühler, zog die Schuhe aus und legte sich aufs Sofa, angezogen und übel riechend wie er war. Sie hat genauso viel Angst wie ich , war sein letzter beruhigender Gedanke, bevor er einschlief.
»Du stinkst!« Emily stand frisch wie aus dem Ei gepellt vor dem Sofa und rümpfte die Nase. Vic blinzelte, drehte sich ächzend auf den Rücken und brummte müde:
»Schön, dass es dir wieder besser geht.« Sie schob seine Beine zur Seite und setzte sich lächelnd.
»Danke.«
»Wofür denn?« Sie nahm seine Hand und küsste sie.
»Du weißt schon.«
»Ich stinke wirklich«, sagte er angewidert. Er stemmte sich mühsam hoch und ging ins Badezimmer. »Wenn mich Madame bitte einen Augenblick entschuldigen wollen?« Sie stand am Fenster und schaute auf die unzähligen Boote im Yachthafen, als er frisch rasiert und nach teurer Seife duftend ins Wohnzimmer zurückkehrte. Seines Robinson-Bartes hatte er sich schon vor der Reise entledigt, um den Wiedersehensschock zu dämpfen.
»Irgendwo da unten liegt sie, nicht wahr?«, fragte sie leise.
»Ja, dort links vorne, nahe beim Leuchtturm.« Er zeigte ihr die Stelle, wo die ›Emily‹ angedockt war.
»Zeigst du sie mir?«
»Klar.« Sie schmiegte sich an ihn und er schlang seine Arme um ihre Taille. Lange standen sie so am Fenster, jeder in seiner Welt, beide glücklich und ungemein erleichtert, die ersten Stunden ihres Wiedersehens unbeschadet überstanden zu haben. »Dein Magen knurrt«, lachte er, als er seine Hand behutsam auf ihren Bauch legte. Sie drehte sich um, küsste ihn flüchtig auf die Wange und löste sich von ihm.
»Du hast recht, ich brauche dringend etwas zwischen die Zähne.« Nach dem späten Frühstück schlenderten sie dem Quai entlang zum Dock, wo er sein Boot vermutete. Ganz sicher war er nicht mehr, doch er erkannte den Steg wieder, und nach wenigen Schritten standen sie vor seiner Yacht. Auffällig viele Leute waren damit beschäftigt, ihre Boote herauszuputzen, und das mitten im Dezember.
»Morgen Abend findet die Boat Parade statt«, erklärte Vic. »Es gibt auch ein kleines Feuerwerk, wenn ich mich recht erinnere. Vom Hotelzimmer aus können wir alles sehr schön sehen.« Sie hatte nur mit halbem Ohr zugehört. In Gedanken versunken betrachtete sie sein Boot. Die ›Emily‹ gefiel ihr. Er half ihr aufs Deck und wollte die Kajütentür aufschließen, als er bemerkte, dass sie nur angelehnt war. Er bedeutete ihr, ruhig stehen zu bleiben, riss die Tür auf und rief: »Hallo, jemand an Bord?« Nichts rührte sich, das Boot war verlassen, aber jemand hatte offensichtlich die Tür aufgebrochen. Mist , dachte er verärgert. Er schaute sich rasch um, ohne weiteren Schaden festzustellen. Alles schien an seinem Platz zu sein. Weshalb hatte ihm Nick nichts von einem Einbruch gesagt? Er rief ihn an, doch sein Freund war ebenso überrascht wie er, sonderbar.
»Alles da?«, fragte Emily besorgt.
»Ja, kein Problem, da hat wohl jemand seine Neugier befriedigt. Komm, ich zeig dir das Innenleben.« Sie hatte befürchtet, die beklemmenden Angstgefühle kehrten zurück, sobald sie sich ins Innere des Schiffs wagte, doch zu ihrer Überraschung spürte sie nichts dergleichen. Im Gegenteil fühlte sie sich auf Anhieb geborgen in der kleinen, wenn auch luxuriösen Kajüte. Es war kalt, doch die intime Nähe zu Vic in der ungewohnten Umgebung löste plötzlich ein heißes Verlangen in ihr aus. Sie zog Vic zu sich heran und drückte ihm zum ersten Mal seit sehr langer Zeit einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen. Die Vorstellung, dass hunderte, tausende von Augenpaaren ahnungsloser Freizeitkapitäne sie beobachteten, steigerte ihre lange unterdrückten Gefühle für ihn zum hemmungslosen Rausch. Vics Körper reagierte sofort, als ihre Hand in seinen Schritt glitt. Ausgehungert liebten sie sich wo sie gerade standen und ohne auch nur die Kleider auszuziehen, als wäre es ihre allerletzte Gelegenheit.
KAPITEL 9
College Park, Maryland; vier Monate später
J ulie setzte sich auf die Holzbank am Teich unter den weit ausladenden Ahorn. Die Blätter begannen bereits auszutreiben, obwohl erst Anfang April war.
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