Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
ihre Häuser zu verlassen?«
»Hast du denn eine bessere Idee?«
5
Als notorischer Morgenmuffel begrüßte Tannenberg seine Sekretärin stets mit einem in die Tiefe des Raums hineingeknurrten ›Moin, Flocke‹. Wie gewöhnlich schlurfte er auch diesmal wieder mit hängendem Kopf und mürrischem Gesichtsausdruck an ihrem etwas zurückgesetzten Schreibtisch vorbei.
Erst als er die Hand auf die Klinke seiner Bürotür legte, wurde ihm bewusst, dass Petra Flockerzie nicht wie sonst üblich mit einem demonstrativ fröhlichen ›Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Morgen, Chef – einen doppelten Espresso wie immer?‹ geantwortet hatte. Befremdet drehte er sich um und blickte hinüber zu ihrem Schreibtisch.
Zusammengesunken wie ein Häuflein Elend kauerte der gute Geist des K 1 hinter einem Flachbildschirm, der ihr Antlitz zum größten Teil verdeckte. Irritiert kratzte sich Tannenberg am Kinn und trottete zu ihr hin. Als Petra Flockerzie ihren Chef kommen sah, bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und begann bitterlich zu weinen.
Wolfram Tannenberg, normalerweise im emotionalen Umgang mit seinen Mitmenschen eher Grobmotoriker denn Filigrantechniker, dachte sofort an die Diagnose einer schlimmen Krankheit.
»Um Gottes willen, Flocke, was ist denn los mit dir?«, fragte er betroffen. Als sie nicht reagierte, sondern wie der berühmte Schlosshund laut aufheulte, schob er mit zitternder Stimme nach. »Was, was ist denn Schlimmes passiert?«
Die 53-jährige, korpulente Sekretärin tupfte sich die Tränen ab und rang stoßartig nach Atem. Sie schluchzte noch einmal tief auf, bevor sie antwortete: »Es ist so schrecklich, Chef.« Erneut wurde sie von einem Weinkrampf überfallen.
Tannenberg holte sich einen Stuhl und setzte sich schweigend ihr gegenüber. Mit besorgter Miene betrachtete er die Frau, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte, dass ihr Leiden ihm regelrecht körperliche Schmerzen bereitete.
Petra Flockerzie rang um Fassung und blickte ihren Chef mit tieftraurigen, wässrigen Augen an. Schniefend wischte sie sich über die Wangen, drückte das Taschentuch auf die Augenwinkel, doch die Tränen wollten einfach nicht versiegen. Ihre ansonsten rosige Gesichtshaut war bleich und glänzte speckig. Die Augen waren von dunklen Schatten umwölkt, wogegen der rote Lippenstift wie ein dicker Strich Signalfarbe auf einer tristen Betonwand wirkte.
Der Leiter des K 1 griff ihre Hand und streichelte sie. »Komm, Flocke, nun sag mir bitte, warum du so verzweifelt bist. Vielleicht kann ich dir helfen.«
Die Sekretärin schluckte hart und erklärte mit einem Anflug von Trotz: »Mir kann niemand helfen.« Sie seufzte und grub ihre Finger in die wulstigen Fettrollen, die ihre Hüften wie Rettungsringe umschlossen. »Ich werde wohl bis an mein Lebensende diese ekligen Pfunde mit mir herumschleppen müssen. Dabei hatte ich schon so tolle Fortschritte gemacht. Und dann dieser fürchterliche Rückfall.«
Während sie sich einem neuerlichen Feuchtigkeitsausbruch hingab, atmete Tannenberg erleichtert durch und begab sich zur Espressomaschine. Schmunzelnd braute er zwei Espresso und kehrte zum Schreibtisch zurück.
»Danke, Chef, Sie sind so lieb zu mir.«
»Jedem, so wie er es verdient«, gab er einen der Lieblingssprüche des Rechtsmediziners zum Besten. »Was war’s denn diesmal für ein Malheur?«
»Ich hab eine ganz tolle Diät entdeckt«, antwortete Petra Flockerzie hechelnd. Ein Hauch von Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück. »Zwei Wochen lang hab ich mich eisern an die Anweisungen zur Durchführung der Tassen-Diät gehalten.«
»Was für’n Ding?«
»Die Tassen-Diät, Chef.« Das Gesicht der Sekretärin leuchtete auf. »Haben Sie noch nie etwas davon gehört?«
»Nee.«
»Diese revolutionäre Diät ist eigentlich ganz simpel: Man darf nur Dinge essen, die man in einer Tasse zubereiten kann.«
Spontan versuchte sich Tannenberg seine geliebten Dampfnudeln oder die von ihm nicht minder geschätzten Hausmacherbrote in einer Tasse vorzustellen. »Wie soll das denn funktionieren?«
»Sehen Sie, Chef, das ist ja das Geniale an dieser wunderbaren Diät. Denn in einer Tasse kann man weder braten noch backen noch kochen. Man kann nur Obst hineinschnitzen oder heißes Wasser über Tütensuppen schütten.«
»Hmh«, brummte der Kriminalbeamte.
»Eine Tasse voller Gurken darf man zum Beispiel so oft essen, wie man will.«
Bei dem Gedanken daran verzog Tannenberg sein Gesicht so, als ob ihm gerade ein
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