Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
den armen Mann auf dem Gewissen, einen Familienvater.«
Entsetzt starrte Hanne in sein fahles, ausgemergeltes Gesicht.
Tannenberg konnte seine Gefühle nicht länger zurückhalten. Dicke Tränen schossen aus seinen geröteten Augen. Er zog die Nase hoch, stützte die Ellenbogen auf den Küchentisch und hämmerte mit den Fäusten an seine Stirn. »Weil ich elender Hornochse ihn nicht ernst genommen habe«, wimmerte er.
Wie ein Wasserfall redete er sich seinen mit Selbstvorwürfen gespickten Kummer von der Seele. Johanna hörte geduldig zu und streichelte ab und an seine eiskalten, zitternden Hände. Sie waren mit weiß aufgequollenen Brennnessel-Bläschen übersät.
Als er geendet hatte, sagte sie: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir jemand nach Bingen gefolgt ist, Wolf. Das erscheint mir ziemlich unwahrscheinlich. Ich vermute eher, dass dieser Oberstabsarzt irgendjemandem von eurem Treffen und seinen Vermutungen über diesen John erzählt hat. Offenbar genau dem falschen.«
»Ja, das ist durchaus möglich«, erwiderte Tannenberg mit dankbarem Blick. »Diese Erklärung ist viel naheliegender als meine. Denn wer sollte mir denn gefolgt sein? Die einzigen beiden, die etwas davon wussten, sind Johannes und Eva.«
Als Hanne diesen Frauennamen hörte, versetzte er ihr einen Stich ins Herz und ihre blauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Was er nur an dieser Nymphomanin gefunden hat, dachte sie. Oder vielleicht immer noch findet?
»Bitte sag meiner Familie nichts von dem Anschlag heute Nacht«, fuhr ihr Lebensgefährte unterdessen fort. »Ich möchte sie nicht beunruhigen. Mir ist schließlich nichts passiert.«
»Das war aber haarscharf.«
»Tja, Unkraut vergeht eben nicht so schnell«, bemerkte er mit betretener Miene und leerte sein Weizenbierglas.
Kurz nach 7 Uhr warf Tannenberg einen Blick in das große Konferenzzimmer der Kriminalinspektion am Pfaffplatz. Es sah dort genauso aus, wie er befürchtet hatte: Überall standen oder lagen Flaschen herum und überquellende Aschenbecher verbreiteten den für einen militanten Nichtraucher wie ihn schier unerträglichen Gestank nach kaltem Rauch. Angewidert riss er die Fenster auf und verzog sich in sein Büro.
Von dort aus beorderte er per Rundruf alle Mitglieder der SOKO ›Sniper‹ zu seiner Dienststelle. Zudem verständigte er Dr. Schönthaler, Kriminaldirektor Eberle und den ranghöchsten Vertreter der Kaiserslauterer Staatsanwaltschaft, ohne allerdings detailliertere Informationen an sie preiszugeben.
Da zwischenzeitlich eine Putzkolonne das Konferenzzimmer auf Vordermann gebracht hatte, erinnerte etwa eine Stunde später kaum mehr etwas an das nächtliche Gelage. Die meisten seiner Kollegen erweckten einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Müde, verkaterte Gesichter blickten ihm alles andere als diensteifrig entgegen. Doch dies änderte sich schlagartig, als er ihnen von den dramatischen Ereignissen seiner nächtlichen Exkursion berichtete.
»Dazu würde haargenau die Nachricht passen, die ich gerade bei der Fahrt hierher im Radio gehört habe«, sagte Susi Rimmel.
»Du meinst das mit dem Skandal im Verteidigungsministerium?«, warf Meier III dazwischen.
»Ja.«
»Los, Susi, erzähl!«, forderte Tannenberg, den an diesem Morgen die aktuellen Tagesnachrichten noch nicht erreicht hatten.
»Das Verteidigungsministerium hat einen brisanten Datenverlust zugegeben. Angeblich aufgrund einer technischen Panne wurden sämtliche Geheimdienstberichte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr vernichtet. Damit sind natürlich auch die Datenbestände über die Einsätze von Spezialeinheiten unwiederbringlich verloren.«
»Was? Also, wenn das ein Zufall ist, fresse ich einen Besen«, meinte Tannenberg.
»Da haben wohl einige Leute richtiggehend Panik bekommen«, bemerkte der Rechtsmediziner. »Die haben anscheinend befürchtet, dass dein Informant sein Wissen über diese illegalen Aktivitäten ausplaudern könnte. Und damit man ihnen nicht auf die Schliche kommen kann, vernichten die Geheimdienste mal schnell alle diesbezüglichen Datensätze. Gar nicht so unklug von ihnen, oder?«
Anstelle einer Erwiderung fasste sein bester Freund die Kriminalpsychologin scharf ins Auge. »Was hältst du eigentlich von Kronenbergers ominöser Selbsttherapie-These?«
Eva ließ einen tiefen Seufzer verlauten. »Also ich muss ihm aus fachwissenschaftlicher Sicht leider zustimmen. Zumindest, was die möglichen Auswirkungen einer solchen«, sie malte
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