Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
musterte einige der vorbeischlendernden Passanten. Diese Saarländer sehen doch aus wie ganz normale Menschen. Komisch. Na ja, das kann mir ja auch schnurzpiepegal sein. Ich muss sowieso nachher wieder über die Grenze zurück in die Pfalz und einen weiteren Auftrag erledigen. Und zwar einen, den ich mir selbst erteilt habe. Nie mehr werde ich mir von irgendjemandem einen Befehl erteilen lassen – nie mehr!
Ihm schräg gegenüber ließ sich ein jüngerer, armamputierter Mann auf dem Verbundsteinpflaster nieder, kramte aus seinem Rucksack eine Mundharmonika hervor und leierte ohne Unterlass die ›Ein-Vogel-wollte-Hochzeit-machen‹-Melodie herunter. In Johns Kopf dudelte dazu unwillkürlich der eingängige Refrain ›fidirallala, fidirallala, fidirall-a-lal-a-la‹. Genervt von dieser musikalischen Zwangsbeglückung ging er zu dem Bettler und hielt ihm einen 20-Euro-Schein unter die Nase.
»Die bekommst du aber nur dann, wenn du sofort mit diesem unerträglichen Gequietsche aufhörst und die Kurve kratzt.«
»Mach ich doch glatt, Meister«, gab der Einarmige zurück, pflückte den Geldschein aus Johns Hand, erhob sich schwerfällig und verabschiedete sich mit einer theatralischen Verbeugung.
»Danke! Damit haben Sie Ihre gute Tat für heute hinter sich«, sagte ein älterer Herr am Nebentisch nach Johns Rückkehr. »Sie kennen ja sicher die alte Pfadfinder-Regel: Jeden Tag sollst du mindestens eine gute Tat verrichten.«
»Ja, natürlich«, erwiderte John freundlich. »Ich war viele Jahre bei den Pfadfindern, deshalb begleitet mich dieser Vorsatz noch immer durch jeden Tag«, log er und fügte im Stillen hinzu: Und heute Abend vollbringe ich bereits meine zweite grandiose Tat für heute. Aber ob es sich dabei um eine weitere gute Tat handeln wird, wage ich doch ernsthaft zu bezweifeln.
Auf dem Weg zu seinem Auto begegneten ihm zwei Polizisten, die allerdings keinerlei Notiz von ihm zu nehmen schienen. Sein Pulsschlag hatte sich nur unwesentlich erhöht. Er fühlte sich sicher, überlegen und unverwundbar. In Vorfreude auf seine nächste Aufgabe pfiff er die in der Fußgängerzone gehörte Melodie vor sich hin und lächelte wildfremde Menschen an. Erfreut registrierte er, dass sich deren Mundwinkel urplötzlich nach oben schoben und dadurch die tief eingefrästen, mürrischen Züge für einen Augenblick aus ihren Gesichtern verschwanden.
Die Fahrt führte John durch eine abwechslungsreiche Mittelgebirgslandschaft, die aus Feldern, Wiesen und Wäldern wie zu einem Flickerlteppich zusammengesetzt war. Mit der milden, wärmenden Herbstsonne im Rücken durchquerte er zuerst Werschweiler, dann Frohnhofen und Krottelbach und erreichte schließlich seinen Zielort, das im reizvollen oberen Ohmbachtal gelegene Dorf Herschweiler-Pettersheim.
John parkte seinen Opel Astra am östlichen Ortsrand. Er schaute sich kurz nach allen Seiten um, dann machte er sich auf den Weg zu einem in Richtung der Gemeinde Wahnwegen gelegenen Waldgebiet, wo sich sein neuer Zielort befand. Allerdings ging er nicht direkt zum SV-Sportgelände, sondern schlug einen Haken und wanderte in entgegengesetzter Richtung. In einem uneinsehbaren Fichtenwäldchen suchte er sich ein lauschiges Plätzchen und legte eine ausgedehnte Siesta ein.
Gegen 16 Uhr packte er seine Sachen zusammen und schlenderte zum SV-Sportplatz, der von hohen Bäumen wie von einem schützenden Kokon umschlossen wurde. Nahezu lautlos nahm er seine Spähposition auf dem präparierten Baum ein. Die Äste, die seinen Blick auf das aus einem Rasen- und einem Hartplatz bestehende Sportgelände zunächst behinderten, hatte er schon vor Wochen abgesägt. Nun hatte er freien Blick auf den Ort, an dem sein nächstes Opfer mit einem Präzisionsschuss niedergestreckt werden sollte.
Nach und nach trafen die Freizeitsportler ein. Dem Alter und der Leibesfülle der Männer nach zu urteilen, fand sich hier gerade eine Thekenmannschaft zum Feierabend-Kick ein. Einem sehnigen, durchtrainierten Elitesoldaten wie ihm huschte so manches Schmunzeln über die Lippen, als er die bierbauchbewehrten Gestalten hinter dem Spielgerät herhecheln sah. Die unzureichenden technischen Fertigkeiten und die nicht vorhandene Laufbereitschaft kompensierten die Hobbyfußballer durch lautstarke Kommandos und rüde gegenseitige Beschimpfungen.
Nach einer knappen Stunde brachen die Freizeitkicker ihr Trainingsspielchen ab. Kurzerhand beschlossen sie, die sportliche Betätigung in den Biergarten ihrer Stammkneipe zu
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