Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
verlegen und sich dort dem einarmigen Reißen zuzuwenden, sprich dem Anheben eines bis zum Rand gefüllten Weizenbierglases.
Mit einem Mal war es totenstill auf dem Sportplatz. John hatte sich bereits mit dem Gedanken abgefunden, dass er nun wohl unverrichteter Dinge den Rückzug würde antreten müssen. Er wollte gerade sein Präzisionsgewehr auseinanderbauen, als er einen Mountainbikefahrer erspähte, der sich von links kommend in sein Blickfeld schob. Er schaute durch das Zielfernrohr: Es handelte sich bei dem ahnungslosen Ankömmling um einen circa 10-12-jährigen, rothaarigen Jungen. Der Rotschopf legte das Fahrrad auf die Seite, kramte einen Fußball aus seinem Rucksack und begann vom Elfmeterpunkt aus auf eines der Tore zu schießen.
John freute sich wie ein kleines Kind über diese schicksalhafte Fügung, denn nun konnte er die siebte Disziplin seines Zehnkampfs absolvieren und dem mit einem einzigen Präzisionsschuss getöteten Opfer den Diskus auf die Brust legen. Er nahm den Jungen ins Visier und berührte mit seinem Zeigefinger den Abzug. Er spürte das kalte Metall, suchte spielerisch den Druckpunkt.
Ein bewegtes Ziel nur im Notfall attackieren, mahnte ihn seine innere Stimme.
Von Johns Fadenkreuz begleitet, bückte sich der Junge, ging einige Schritte zurück, nahm Anlauf und trat an den Ball. Im Laufschritt eilte er zum Tornetz, holte den Ball und joggte zurück zum Elfmeterpunkt. Dort blieb er stehen und blickte hinüber zum Wald.
Winfried Gerster war ein leidenschaftlicher Pilzsammler. Allerdings gehörte er nicht zu denjenigen Zeitgenossen, die im Wald alles, was auch nur annähernd nach einem Speisepilz aussah, lieblos aus der Erde herausrissen und in Plastiktüten nach Hause trugen. Nein, in seiner Familie hatte die Pilzjagd eine lange Tradition.
Die geheimen Plätze mit den besten Speisepilzvorkommen wurden wie ein Schatz gehütet und von Generation zu Generation weitergegeben. Das Pilzsammeln wurde als ein Ritual im Einklang mit der geliebten Natur betrachtet. Man erntete jeweils nur das, was man auch verzehren konnte, und schnitt nur solche Pilze ab, die eine gewisse Größe erreicht hatten.
Beim gemeinsamen Abendbrot mit seiner Ehefrau war die Idee aufgekommen, die Tochter und deren Familie am nächsten Tag zum Mittagessen einzuladen. Und da man sich mitten in einer vielversprechenden Pilzsaison befand, drängten sich Pfifferling-Omeletts geradezu auf – die Leibspeise aller Familienmitglieder.
Passenderweise war Freitag. Weil die allermeisten Pilzsammler erst am Wochenende in die Wälder einfielen, standen die Chancen auf eine reichliche Pilzernte nicht schlecht. Die milde Witterung und die häufigen Regenschauer der letzten Nächte hatten ideale Wachstumsbedingungen für die wohlschmeckenden Waldbewohner geschaffen.
Deshalb rief der Senior seine Tochter an und kündigte die Delikatesse an. Da ihn sein einziger Enkel in der Vergangenheit schon des Öfteren in den Wald begleitet hatte, wollte er ihn gerne zu seiner Exkursion einladen. Aber Dominik hatte sich gerade auf den Weg zu einem Freund gemacht, mit dem er später zum Fußballplatz radeln wollte.
Gerster nahm zwei Jutesäckchen aus der Eckbank-Truhe und steckte sein Springmesser ein. Wegen der Zeckengefahr stopfte er die Hosenbeine in die Strümpfe. Dann schnürte er seine Wanderschuhe, verabschiedete sich und fuhr mit dem alten VW Golf in das etwa zwei Kilometer entfernte Waldgebiet, wo sich in einer Eichenschonung sein ertragreichstes Pfifferling-Revier befand.
Als er einen silbergrauen Opel Astra mit Kaiserslauterer Kennzeichen genau an der Stelle stehen sah, wo er normalerweise sein Auto parkte, schäumten sogleich Wogen des Zorns in ihm auf.
»Verdammte Städter, kommen die jetzt auch schon hierher zu uns und klauen uns unsere Pilze«, grummelte er ungehalten vor sich hin.
Notgedrungen steuerte er seinen Golf in den nächsten Waldweg hinein. Aus Angst, den Pilz-Wilderer auf sich aufmerksam zu machen und ihn möglicherweise sogar auch noch zu einem seiner besten Pilzreviere zu führen, drückte er betont leise die Autotür ins Schloss und spitzte die Ohren. Aber alles war ruhig. Nur vom Sportplatz her hörte man entfernte Männerstimmen. Mit Luchsaugen sondierte er den mit Farnen, Brennnesselbüschen und Heidelbeerstöcken bewachsenen Mischwald. Doch er entdeckte den Wilderer nicht.
Nach einem etwa zehnminütigen Fußmarsch erreichte er die umzäunte Eichenschonung. Er blickte sich noch einmal verstohlen in alle
Weitere Kostenlose Bücher