Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
gefährlicher als ein waidwundes Tier: Etwa einhundert Meter schräg vor ihm tauchte ein maskierter, mit einer dunkelgrünen Hose und gleichfarbiger Jacke bekleideter Mann aus einem Fichtenwäldchen auf. Er rannte wie vom leibhaftigen Teufel verfolgt. Auf seinem Rücken baumelte ein Wanderrucksack und in der rechten Hand hielt er ein großes Gewehr.
Der Mann hatte ihn offenbar noch nicht entdeckt. Gerster glitten die beiden Jutetaschen aus den Händen, fielen zu Boden und kippten zur Seite. Während ein paar Pfifferlinge auf den Waldweg kullerten, ging er in die Hocke und legte sich anschließend flach auf den geschotterten Weg.
Nach ein paar Sekunden hob er vorsichtig den Kopf an und lugte über die Farnwedel hinweg. Von der martialischen Gestalt war weit und breit nichts mehr zu sehen. Kurz darauf heulte genau dort, wo Winfried Gerster vorhin den Opel Astra bemerkt hatte, ein Automotor auf. Das Fahrgeräusch verflüchtigte sich in östlicher Richtung.
Erst jetzt stellte sein Gehirn eine gedankliche Verknüpfung her, die ihm sofort den Atem stocken ließ: Sportplatz – Gewehr – Dominik!
Der Name seines Enkels kreischte so laut in seinen Ohren, dass dieser höllische Schmerz sein Gesicht in eine furchterregende Grimasse verwandelte. Er sprang auf, rannte zu seinem Auto und raste los. Die erste Kurve nahm er viel zu schnell. Das Heck brach aus und schleuderte an eine Leitplanke. Mit einer reflexartigen Lenkbewegung gelang es ihm, den VW Golf zu stabilisieren.
Zuerst entdeckte er Dominiks Mountainbike. Es lag im Eingangsbereich des Sportgeländes. Er hatte es seinem Enkel zu dessen zwölftem Geburtstag geschenkt. Das erste Fußballtor tauchte auf. Hektisch schaute er sich nach allen Seiten um. Aber keine Spur von Dominik. Dann tauchte das zweite Tor auf. Nun konnte er den gesamten Rasenplatz überblicken. Doch von seinem Enkel war noch immer nichts zu sehen. Gerster trat ruckartig auf die Bremse, würgte den Motor ab. Er riss die Autotür auf und rannte auf den Rasenplatz.
»Dominik«, schrie er aus Leibeskräften. »Domi-niiik.«
»Hallo, Opa, hier bin ich«, rief eine Jungenstimme aus dem Dickicht hinter dem linken Fußballtor. Kurz darauf erschien ein quicklebendiger Junge. Er trug einen Fußball unter dem Arm und strahlte über alle Backen. »Ich hab über’s Tor geschossen und den Ball ewig nicht gefunden.« Seine Miene verdüsterte sich. »Ich glaube, er ist kaputt, Opa.«
Gerster hatte inzwischen seinen Enkel erreicht. Er schloss ihn in die Arme und drückte ihn an sich. »Das macht nichts, Dominik, ich kauf dir einen neuen.« Er löste die Umklammerung und boxte ihm leicht an die Schulter. »Was heißt hier ›einen‹, ich kauf dir fünf neue.«
Als Dominik die Tränen in den Augen seines Großvaters bemerkte, fragte er: »Was hast du denn, Opa? Warum weinst du?«
Gerster putzte sich geräuschvoll die Nase. »Erzähl ich dir gleich. Hast du dein Handy dabei?«
»Logo, Opa«, gab der rothaarige Junge zurück und zog grinsend sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. »Das hab ich immer am Mann, genau wie ein Berufskiller seine Waffe.«
Als ihm zu Bewusstsein kam, was er da eben von sich gegeben hatte, blickte er etwas betreten vor sich auf den Rasen. Dominik erinnerte sich nämlich gerade daran, wie sehr sein Großvater die Ballerspiele verabscheute, mit denen er und seine Freunde sich häufig die Zeit vertrieben.
Doch Winfried Gerster lachte herzhaft und sagte: »Wenn du wüsstest, wie recht du hast, mein Junge.« Dann tippte er die 110 in die Tastatur.
»Wolf, ich habe gerade einen Rentner aus Herschweiler-Pettersheim am Apparat. Er behauptet, vor zehn Minuten dem Sniper im Wald begegnet zu sein. Schau mal bitte auf der Karte nach, wo dieses Dorf liegt«, schrie Michael Schauß, ohne Rücksicht auf die Telefonate und Gespräche seiner Kollegen, in das weite Rund des Lagezentrums.
Bei den meisten Mitgliedern der Sonderkommission erzeugte dieser Ausruf keine besondere Reaktion. Zu oft hatten sie sich in den vergangenen Stunden mit irgendwelchen Wichtigtuern herumschlagen müssen. Lediglich Susi Rimmel und Meier III blickten sich suchend nach Tannenberg um. Der saß neben Sabrina und stöberte in einer BKA-Personaldatei herum. Eva hatte den Zugriffscode einem ihrer ehemaligen Liebhaber abgetrotzt. Nun erhob sich der SOKO-Leiter und lief hinüber zu der an einer Korktafel aufgepinnten Pfalzkarte.
»Hersch – was?«, fragte er nach.
»Herschweiler-Pettersheim«, wiederholte Schauß.
»Den
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