Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
neuerlichen Wutausbruch des Geiselnehmers vorzubeugen, antworteten die Businsassen im Chor: »Nein.«
»Weil ich unsichtbar sein werde.« John führte seine Arme nach oben und tätschelte die Skimaske auf seinem Kopf. »Wegen meiner Tarnkappe. Die habe ich nämlich dem Zwerg Alberich abgenommen. Dem aus dem Nibelungenlied. Den kennt ihr doch sicherlich alle – oder?«
»Jaaaa.«
16
Das Gespräch mit dem Mädchen sowie ihre Handynummer leiteten die Techniker umgehend an den SOKO-Leiter weiter. Außerdem erfuhr er, dass einer seiner Kollegen ein Geländemotorrad besitze und dieses rechtzeitig dem Geiselnehmer zur Verfügung gestellt werde. Tannenberg notierte sich die Handynummer und gab die Informationen an seine Mitstreiter weiter.
»Sehr gut. Über das Handy können wir Kontakt zum Geiselnehmer aufnehmen«, sagte Eva von einer Lautsprecheransage übertönt, mit der die Kunden und Verkäufer zum sofortigen Verlassen des Kaufhauses aufgefordert wurden.
»Was will der denn mit einem Motorrad?«, fragte Tannenberg in die Runde. Er machte eine ausladende Armbewegung über das inzwischen weiträumig abgesperrte Gelände. »Hier kommt er doch niemals raus.«
»Zumal er auf dem Motorrad nur eine einzige Geisel bei seiner Flucht mitnehmen könnte«, bemerkte Michael Schauß.
»Die außerdem auch noch das Motorrad fahren müsste«, ergänzte Sabrina. »Denn einen Sozius könnte er nicht mit der Waffe bedrohen. Außerdem könnte die Geisel dann einfach abspringen.«
»Klar, Leute, das ist Blödsinn«, versetzte Tannenberg. »Ich an seiner Stelle würde das Motorrad in den Bus verfrachten und mit meinen Geiseln aus der Stadt rausfahren und dann irgendwo mit der Enduro im dunklen Wald verschwinden. So wären seine Chancen am größten.«
»Ja, Wolf, das denke ich auch«, stimmte Dr. Schönthaler zu.
»Aber weshalb hat er denn eben keine Geldforderung gestellt?«, fragte die Kriminalpsychologin, die mit dem Rücken an der Fensterscheibe lehnte.
»Vielleicht stellt er seine weiteren Forderungen ja erst später«, mutmaßte Tannenberg.
»Aber das wird doch viel zu knapp. In einer Stunde will er die Geländemaschine haben. Die Zeit würde nie und nimmer ausreichen, das Geld zu besorgen«, wandte Eva ein.
»Vielleicht ist er inzwischen schon derart durchgeknallt, dass er überhaupt keinen konkreten Plan mehr verfolgt – außer dem seiner Flucht natürlich«, meinte der Rechtsmediziner. »Schließlich hat er seinen ursprünglichen Plan nicht zu Ende bringen können. Das hat ihn womöglich völlig aus der Bahn geworfen. Bei solchen Psychopathen weiß man ja nie. Vielleicht hat er auch Handgranaten dabei und will sich und uns einen bombigen Abgang verschaffen. Als Plan B sozusagen.«
»Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand!«, schimpfte sein bester Freund.
Mehrere mit Sturmhauben und Kampfanzügen geschützte SEK-Beamte stürmten in den Tagungsraum. Während drei der martialischen Gestalten die Stehlampen und Regale zur Seite räumten, die Fenster öffneten und ihre Präzisionswaffen in Anschlag brachten, baute ein anderer das Stativ mit dem Nachtsichtgerät auf. Unterdessen stellte sich der fünfte Mann den Anwesenden als Hauptkommissar Carsten Weber vor, Einsatzleiter der Spezialtruppe.
Mit ausgestrecktem Arm zeigte er hinüber zur Mühlstraße. »Da vorne über der Eisdiele habe ich zwei Präzisionsschützen postiert. Dadurch haben wir die Flanke des Busses unter Kontrolle.« Er wies in östliche Richtung. »Hinter dem Brunnen befinden sich zwei weitere Spezialkräfte. Und dort, rechts vor der Bäckerei, wartet der Rest meiner Truppe auf den Einsatzbefehl zur Erstürmung des Busses.«
»Damit das gleich zwischen uns beiden klar ist, werter Herr Kollege«, sagte Tannenberg in barschem Ton. »Hier habe ich das Kommando – und sonst niemand.«
»Nur so lange, bis keine anderslautenden Anweisungen erteilt werden, werter Herr Kollege«, konterte der Einsatzleiter.
»Wovon Sie besser nicht ausgehen sollten«, gab Tannenberg schroff zurück. »Also kein Zugriff und auch kein einziger Schuss ohne meine vorherige Zustimmung. Ist das klar?«
Weber nickte knapp und verzog sich zu seinen Leuten.
Tannenberg warf einen Blick durch das Profi-Nachtsichtgerät, das mit einer 50.000-fachen Lichtverstärkung aufwartete. Viel sah er jedoch nicht, denn die hintere, hochgezogene Sitzreihe des Linienbusses behinderte die Sicht in den vorderen Bereich des Fahrgastraums. Er konnte lediglich die Hinterköpfe einiger Passagiere
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