Zehntausend Augen
er bewaffnet war?
Er ist kein Killer. So gut glaubte sie den Erpresser inzwischen zu kennen. Ein eiskalter Killer wäre anders vorgegangen. Ihr Erpresser war eher ein eiskalter Spieler.
Im Raum standen eine Sitzecke, eine Kommode und ein Tisch. Der Kamin an der einen Wand wirkte, als wäre er noch nie benutzt worden. Es gab zwei Türen, von denen die linke in eine winzige Küche führte. Zwei Kochplatten und ein Kühlschrank waren die einzigen Anzeichen, dass Ellen sich in der Nähe der Zivilisation befand. Auch hier war niemand. Blieb noch die zweite Tür. Dahinter lag das Schlafzimmer. Die Einrichtung war genauso spärlich wie im Rest der Finca und beschränkte sich auf ein Bett, einen Nachttisch und einen Sessel.
Nur ein Detail passte nicht hierhin. An der Kopfseite des Bettes lagen Handschellen. Wie magisch angezogen, ging Ellen zu den Handschellen, um sie näher zu untersuchen. Sie waren an der Wand befestigt.
Mit einem deutlich hörbaren Klack fiel die Tür ins Schloss. Ellen stürzte zurück und sprang mit voller Wucht gegen das Türblatt. Das Schloss knarzte laut – aber sonst tat sich nichts. Ellens Schulter schmerzte. Sie rüttelte an der Klinke. Verschlossen. Sie lief zum Fenster. Es war von außen durch ein Gitter gegen Einbrecher geschützt – und somit auch gegen Ausbrecher.
»Scheiße!«
Sie saß in der Falle. Mit Gewalt kam sie hier nicht weiter. »Ich will hier raus!«, sagte sie laut.
»Das weiß ich«, kam es von der anderen Seite der Tür. »Sonst noch was?«
»Sie haben mir ein Treffen versprochen. Ich will Sie sehen.«
»Nur zu meinen Bedingungen.«
»Von Bedingungen war keine Rede.«
»Nein? Ich habe die Spielregeln nie aufgehoben. Sie kennen den Preis für das letzte Level. Ziehen Sie sich aus.«
»Was sollen die Handschellen?«
»Das ist meine kleine Lebensversicherung, damit Sie mir nicht an die Gurgel springen. Deshalb werden Sie die Handschellen anlegen.«
Ellen blieb die Spucke weg. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich für Sie ausziehe und dann noch freiwillig an ein Bett fessele.«
»Doch. Ich habe sogar nicht den geringsten Zweifel, dass Sie genau das tun werden.«
Es war direkt atemberaubend, mit welcher Selbstverständlichkeit der Erpresser Unmögliches von ihr verlangte. »Wie wollen Sie mich zwingen? Wollen Sie mich verhungern lassen?«
»Ein interessanter Gedanke. Aber nein. Mir liegt etwas daran, dass Sie das freiwillig tun.«
»Warum sollte ich? Niemand, der seinen Verstand beieinanderhat, würde sich freiwillig vor einem Fremden Fesseln anlegen. Warum sollte ich es tun?«
»Weil Sie mir begegnen wollen. Weil Sie immer noch hoffen, dass Sie mich zu fassen kriegen. Eine ganze Menge Gründe. Außerdem sind Sie anders als fast alle anderen Menschen. Die meisten würden jetzt vor Angst vergehen – Sie haben keine Angst.«
Ellen begann in dem Zimmer hin und her zu laufen. »Und wenn ich es nicht tue? Was machen Sie dann?«
»Dann verschwinde ich, gebe einem Taxifahrer den Schlüssel zur Finca, der Sie dann wieder abholt. Mich werden Sie allerdings niemals treffen. Ganz einfach.«
»Dann haben Sie verloren. Sie haben Ihr Ziel nicht erreicht und alles war umsonst.«
»Es wäre tatsächlich bedauerlich, aber das würde ich in Kauf nehmen. Mein Sicherheitsbedürfnis ist größer als meine Eitelkeit.«
Er drohte ihr tatsächlich keine Gewalt an. Doch Ellen überraschte eines noch mehr: Sie glaubte ihm. Sie wusste, dass er es ganz genauso machen würde, wie er gesagt hatte. Die entscheidende Frage war: Was wollte sie?
Ellen kannte sich gut genug. Sie wusste, sie würde niemals zufrieden sein, wenn sie die Spur, die sie jetzt aufgenommen hatte, fallen ließ. Sie war dem Erpresser bis nach Mallorca gefolgt, da wollte sie nicht ohne ein Ergebnis zurückkehren.
»Das ist schon wieder Erpressung«, sagte Ellen laut gegen die Tür.
Auf der anderen Seite war ein leises Lachen zu hören. »Das gehört zu meinem Beruf. Das wissen Sie doch.«
Ellen fand keine Lösung für ihr Dilemma. Sie ging noch einmal im Zimmer herum und suchte nach einer Möglichkeit, wie sie doch hier herauskommen konnte. Es gab keine.
Der Erpresser meldete sich wieder. »Damit das Ganze nicht so lange dauert, sporne ich Ihre Entscheidungsfreude mit einem bewährten Mittel an. Wir geben uns noch exakt fünf Minuten, dann reise ich ab.«
Ellen trat vor Wut gegen die Tür. Auf der anderen Seite blieb es still. Und das würde sich auch nicht ändern. So gut kannte sie den Erpresser
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