Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
Vom Netzwerk:
inzwischen. Wenn sie nicht auf seine Forderung einging, würde er sie hier sitzen lassen, ohne dass sie auch nur einen Blick auf ihn hatte werfen können.
    Bei diesem Gedanken hielt Ellen inne. Ich habe seine Stimme gehört.
    Es war das erste Mal, dass der Erpresser etwas von sich preisgegeben hatte. Der Erpresser war ein Mann. Selbst diese simple Tatsache war in Berlin eine bloße Vermutung gewesen. Jetzt stand die Tatsache fest. Aber Ellen wollte mehr. Sie wollte diesen Kerl in die Finger kriegen, seine Haarfarbe, seine Gestalt, sein Gesicht sehen.
    Ihr blieben fünf Minuten für eine Entscheidung. Ellen sah auf ihre Uhr. Eine Minute war schon um.
    Ein Gefühl beherrschte sie: der unbändige Wunsch, herauszufinden, wer hinter all dem stand. Wer war zu solchen Erpressungen in der Lage? Wer war so gerissen, dass er die gesamte Berliner Polizei an der Nase herumführte? Wer schaffte es, sie selbst so zu manipulieren, dass sie ständig Dinge tat, die sie eigentlich nicht tun wollte? Wer war der Kerl, der so in ihre Privatsphäre eingebrochen war und ihr Privates vor den Augen der Welt offengelegt hatte?
    »Ich gehe auf Ihre Forderung ein«, sagte Ellen, kurz bevor die Zeit ablief.
    Sie zog ihre Kleidungsstücke aus, warf sie auf den Sessel und legte sich auf das Bett. Mit den Fingern erspürte sie das Metall der Handschellen und das Schloss. Ellen holte tief Luft. Dann machten die Handschellen »klick«.

46
     
    Hajo wirft einen kurzen Blick durch das Fenster. Ellen hat sich die Handschellen so angelegt, wie er es sich vorgestellt hat. Er prüft den Sitz seiner Maske. Kein Haar darf herausschauen und kein Stück Haut, nichts, was eine Spur hinterlassen könnte. Vorsicht ist die oberste Regel. Immer. Das langärmlige schwarze Shirt und die Handschuhe sitzen perfekt. Es wird heiß werden, aber um nicht erkannt zu werden, ist ihm kein Preis zu hoch. Deshalb darf Ellen auch nicht den Schimmer einer Ahnung bekommen, dass er sie von früher kennt.
    Jetzt kann er zu ihr gehen und mit ihr in einem Zimmer sein. Nicht nur virtuell, sondern körperlich. So nah wie noch nie. Er spürt eine Aufregung in sich wie schon lange nicht mehr. Er fühlt sich lebendiger als sonst.
    Hajo öffnet die Tür. Zentimeter um Zentimeter gibt sie den Blick auf Ellen frei. Sie sieht ihn genauso gespannt an wie er sie. Er tritt ins Zimmer, ans Fußende des Bettes. Da liegt sie, vollkommen nackt und hilflos und trotzdem wild und unbezähmbar. Ihre Augen sprühen vor Energie. Wäre sie nicht gefesselt, würde sie ihn anspringen wie der Tiger auf ihrer Brust.
    Hajo vermisst jeden Quadratzentimeter ihrer Haut mit seinem Blick. Absolut nichts bleibt ihm verborgen. Die wenigen blauen Flecken von ihrem Sturz am Montag sind kaum noch zu sehen. Er hat sich nie Sorgen gemacht, dass ihr dabei ernsthaft etwas passieren würde. Dafür ist sie einfach zu gut.
    Ellen rührt sich. Sie zerrt an ihren Handschellen und funkelt ihn an.
    Ahnt sie eigentlich, wie schön sie ist?
    »Können Sie nicht reden? Oder hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, sagt sie. Typisch Ellen, frech und unbeugsam.
    »Der Gentleman genießt und schweigt.«
    »Gentleman?«, fragt Ellen. »Dass ich nicht lache. Sie sind ein Verbrecher.«
    »Was sich durchaus nicht ausschließt.«
    »Ziehen Sie Ihre Maske aus. Ich bin nicht von Berlin hierhergekommen und habe mich an ein Bett gefesselt, um mit einem Phantom zu sprechen.«
    »Ihnen steht nicht zu, mich zu erkennen.«
    »So haben wir nicht gewettet.« Wieder zerrt Ellen an den Handschellen.
    »Wir haben überhaupt nicht gewettet. Ich wette nie. Ich spiele. Das ist ein großer Unterschied. Und Sie haben das Spiel verloren. Das sollten Sie nicht vergessen. Im Übrigen habe ich nie versprochen, dass Sie mich sehen werden. Ich habe Ihnen ein Treffen angeboten, mehr nicht. Und dieses Angebot löse ich gerade ein.«
    »Und was soll das Ganze, wo Sie schon der Sieger sind und ich verloren habe?«
    »Ich gönne uns eine kleine Verlängerung des Spiels in privater Atmosphäre. Ich habe lange für diesen Sieg gearbeitet. Nun möchte ich ihn genießen.«
    »Und was habe ich davon?«
    »Das liegt an Ihnen. Übrigens finde ich, dass wir uns duzen sollten. Wenn man sich eine einsame Finca teilt und dann auch noch nackt auf einem Bett liegt, ist das normal. Oder findest du nicht, Ellen?«
    »Ich duze mich nicht mit einem Erpresser.«
    »Na ja, kommt vielleicht noch.«
    Hajo verlässt das Zimmer, greift nach der Sporttasche und geht wieder zurück. Ellen

Weitere Kostenlose Bücher