Zehntausend Augen
kleinen Rinnsalen und liefen über ihren nackten Bauch. Was sollte, was konnte sie überhaupt noch tun?
»Wir müssen das Schiff erkennen. Wer erkennt das Schiff?« Ellen stellte sich hinter Khalid.
Khalid rief die Bilder der Flotte aus dem Internet auf. Das Menü war umständlich. Er musste jedes Schiff einzeln aufrufen und dann die Fensterausschnitte mit den Fenstern des Schiffes abgleichen.
848.
»Was zeigt das andere Bild?«, fragte Ellen. »Das dürfen wir nicht vergessen.«
Zu sehen war eine geschwungene Linie mit einigen Streifen darunter.
Ein Körper? Einige Sekunden vergingen, in denen der Ausschnitt stückweise wuchs.
844.
Jetzt war ein Auge zu erkennen.
»Das ist ein Tier«, sagte Marina Wirtz. »Es ist ein Tiger.«
»Was soll ein Tiger bedeuten? Vielleicht den Zoo?«, fragte Kronen.
»Es ist kein Foto. Es ist eine grobe Zeichnung. Das muss etwas anderes heißen«, sagte Marina Wirtz.
842.
»Sie sollten sich beeilen«, sagte die Stimme. »Oder haben Sie noch einen Joker?«
Der Erpresser spielte wieder Gelächter ein. »Sie haben keinen Joker? Das ist bedauerlich. Man sollte immer einen Joker haben, wenn man spielt. Ich habe jedenfalls einen, und den möchte ich jetzt ziehen, wenn Sie einverstanden sind – La Tigresa.«
Ellen hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu bekommen. La Tigresa. Jetzt erkannte sie das Bild. Es zeigte eine Tätowierung, einen Tiger im Sprung.
38
Letztes Jahr im Sommer. Mallorca. Ein blauer Pool verlockte zum Schwimmen. Meerblick vom Balkon. Mehrere Segelboote zogen vorbei. Ein Traum für vierzehn Tage.
Ellen hatte nicht zufällig einen Club-Urlaub gebucht. »Flirt-Faktor inbegriffen«, hatte im Prospekt gestanden. Dieser Satz hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sie sich gerade für dieses Urlaubsziel entschieden hatte.
An einem der ersten Urlaubsabende fand sich Ellen in einer Gruppe von Gästen wieder, die munter schwatzend zu der Freifläche neben dem Pool trödelten. Sie ließ sich mit ihnen treiben. Überall hingen bunte Lampions, Stühle standen in mehreren Reihen im Halbkreis. Die Animateure gaben sich redlich Mühe, ihre Gäste zu unterhalten. Aus einem Stapel Karten mit Tiermotiven sollte jeder Gast eine auswählen. Ellen nahm einen Tiger. Indem man die Geräusche und Bewegungen des jeweiligen Tieres nachahmte, sollte man den Gegenpart finden, der das gleiche Tier gezogen hatte. Nach einem kurzen Einsatz als Tigerin, der hauptsächlich aus Beobachten bestand, hatte sie ihn gefunden, den Tiger. Ellen war angenehm überrascht. Ihr »Tiger« hatte schwarze Haare, noch schwärzere Augen und hieß Pablo. Er kam vom spanischen Festland, sagte er, aus Barcelona. Um sich auf seine Karriere als Hotelmanager vorzubereiten, hatte er ein Jahr in verschiedenen deutschen Hotels gearbeitet. Deshalb sprach er etwas Deutsch, gerade so viel, dass Ellen und er sich unterhalten konnten.
Die nächsten Tage waren ein Traum. Pablo zeigte Ellen Palma de Mallorca. Als Spanier fand er die Ecken und Lokale, die man als Tourist nicht entdeckte. Sie machten einen gemeinsamen Tauch-Ausflug. Ellen spürte, wie sehr sie sich nach so einer lockeren und unbeschwerten Atmosphäre gesehnt hatte. Es geschah fast von selbst, dass Pablo und Ellen sich näherkamen. Ellen wehrte sich nicht. Es tat so gut. Und sie mochte es, wenn Pablo sie »La Tigresa«, die Tigerin, nannte.
An diesem Abend versorgte Pablo Ellen mit Cocktails, vorzugsweise mit seinem »Pablo Spezial«. Sie hatte aufgegeben, nach dem Inhalt zu fragen. Pablo schwieg eisern, und eigentlich war es ihr auch egal, aus was der Cocktail gemixt war. Sie genoss einfach. Und reichlich. Später schlenderten sie Arm in Arm zur Animationsbühne. Pablo wollte sich gerne den Wet-T-Shirt-Wettbewerb ansehen.
»Willst du nicht auch mitmachen?«, fragte er scherzhaft.
Auf der Bühne vor so vielen Menschen? Mit einem nassen T-Shirt? Ohne etwas drunter? »Das ist nichts für mich«, wehrte sie ab.
»Du hast so eine wunderbare Figur.« Pablo zeichnete einen kurvigen Umriss in die Luft. »Ganz hervorragend, einfach umwerfend sexy.«
So etwas hörte Ellen viel zu selten. Trotzdem blieb sie standhaft. Pablo ging, um ihnen neue Cocktails zu holen. Der Wettbewerb begann. Der Animateur wollte noch mehr Frauen auf der Bühne sehen. Pablo kam zurück und reichte Ellen ihren vierten Spezial. Mit jedem Schluck schwand ihre Widerstandskraft, während Pablo ihr weiter schmeichelte und sie drängte, doch auf die Bühne zu gehen.
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