Zehntausend Augen
Lachen aus den Lautsprechern brach ab. »Es ist die MS Solar.«
»Lokalisieren!«, befahl Ellen.
»Schwierig«, sagte Khalid nach wenigen Augenblicken. »Die MS Solar fährt nicht nach Fahrplan. Sie ist auf einer Sonderfahrt.«
»Die Stern- und Kreisschifffahrt muss wissen, wo sie ist.«
»Wir versuchen bereits, jemanden zu erreichen, aber es ist immer besetzt.« Khalid deutete zu Stefan, der mit dem Telefon am Ohr Ellen zunickte.
Sie hatten noch 680 Sekunden, etwas mehr als elf Minuten. Ellen ging wieder in die Mitte der Zentrale.
»Der Tiger. Das ist ein Tattoo auf einer weiblichen Brust«, sagte Brahe.
»Wer soll das denn kapieren?«, sagte Kronen. In seiner Stimme schwang unverhohlener Ärger mit.
Noch war Ellen die Einzige, die etwas damit anfangen konnte, aber sie sagte nichts.
»Wir haben das Schiff«, rief Khalid.
»Wo?« Ein Hoffnungsschimmer glomm in Ellen auf.
»Auf dem Wannsee, in der Nähe von Schwanenwerder.«
Der Hoffnungsschimmer erlosch. Das Schiff war mitten auf dem Wannsee, dem größten See Berlins. Zehn Minuten würden niemals reichen, um das Schiff ans Ufer zu bringen und die Passagiere zu evakuieren.
Eine leichte und beschwingte Melodie kam aus den Lautsprechern. »Ich wusste, dass ich dieses Level gewinnen werde.«
Hatten sie jemals eine Chance gehabt? Eindeutig nein. Der Erpresser war über alle Maßen raffiniert. Es war schon fast unheimlich, wie er den ganzen Polizeiapparat manipulierte.
»Ich freue mich schon auf den Preis, den Sie zahlen werden. Ist es wirklich so schlimm, wenn die Welt Ihre perfekte Brust sehen wird?«, fragte die freundliche Stimme. »Vielleicht kann ich Ihnen ein bisschen helfen, damit es Ihnen leichter fällt. Wir können uns gerne das ganze Foto ansehen. Das wird den Zuschauern sicher gefallen.«
Brahe sah Ellen verständnislos an.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Kronen.
Ellen stand wie versteinert. In wenigen Minuten würden sie sowieso alle fast nackt sehen. Warum sollte sie sich nicht jetzt ausziehen und die Sache zu Ende bringen? Oder gab es doch noch eine andere Lösung? Sie hatte noch 578 Sekunden, fast zehn Minuten.
»So unschlüssig? Das ist gar nicht Ihr Stil«, sagte die Stimme. »Dann möchte ich Ihre Motivation noch weiter anfachen.«
Die Software-Stimme klang unverändert freundlich, aber Ellen war es, als setze jemand ein spitzes Messer auf ihre Brust.
»Haben Sie den Bonus vergessen, um den wir spielen?«
Die »120 + 2« erschien auf dem Bildschirm.
Ellen hatte tatsächlich nicht mehr daran gedacht.
»Sie kennen die beiden sehr gut.«
Ein Foto von Hanna und Elias erschien, wie sie beide auf einem Spielplatz herumtobten. Ellen hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben. Gestern beim Italiener – Hanna und Elias hatten von einem Ausflug auf dem Wannsee erzählt. Mit der Schule. Der Erpresser wusste davon. Die beiden waren auf dem Schiff, mit über hundert anderen Kindern – und zusammen mit einer Bombe.
Nein! Nicht Hanna und Elias.
Der Countdown zählte unbarmherzig weiter.
528.
In Zeitlupe öffnete Ellen ihren BH und ließ ihn achtlos auf den Boden gleiten. Bei 510 stoppte der Countdown. Aus den Lautsprechern klang Applaus wie bei der Verleihung des Fernsehpreises. Auf den Monitoren blitzte es, als ob tausend Fotografen ihre Kameras auf Ellen richteten.
40
Marina Wirtz war nicht leicht zu beeindrucken. Ihre Arbeit im Psychologischen Dienst des LKA hatte sie schon mit manchem konfrontiert, was andere zum Zusammenbruch getrieben hätte. Eine gewisse Distanz zu den Problemen und gewöhnlich auch zu den betroffenen Leuten war bei ihrem Beruf schon aus professionellen Gründen erforderlich. Bei Ellen Faber fiel ihr diese Distanz relativ leicht, weil die beiden Frauen grundverschieden waren. Sie begegneten sich nur dann, wenn die Dienstvorschriften es forderten.
Marina war während der Kommunikation mit dem Erpresser wie schon die vorigen Male in der Zentrale anwesend. Normalerweise hätte sie sogar die Verhandlungen geführt. Ihre psychologische Ausbildung schloss Verhandlungsführung im Krisenfall ein, aber dieses Mal war alles anders. Sie war auf die Zuschauerrolle beschränkt, weil der Erpresser auf Ellen als Verhandlungspartner bestand. Aber für eine spätere Auswertung war es wichtig, dass sie so nahe wie möglich am Geschehen war. Wobei – in diesem speziellen Fall hätte man fast auf ihre Anwesenheit verzichten können. Marina war darauf geschult, Körpersprache zu deuten. Auch kleinste Nuancen im Tonfall
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