Zehntausend Augen
Büros saßen die Kollegen an ihren Telefonen und warteten auf ein Zeichen von Kronen. Jetzt kam es nur noch auf den Erpresser und Ellen an.
Es war so weit. Die Internetübertragung wurde aktiviert. Die Leute zogen sich aus dem Zentrum der Zentrale zurück. Nur Ellen blieb dort stehen, ihren Blick auf den Monitor vor sich gerichtet. Ellen wollte gar nicht mehr wissen, wie viele Menschen ihr da draußen im Moment zuschauten. Es waren auf jeden Fall zu viele. Warum saßen die Leute eigentlich vor ihren Bildschirmen? Wohl kaum aus reinem Interesse an der Arbeit der Polizei. Eher, um einem Verbrecher live zuzusehen, oder weil sie darauf warteten, dass Ellen sich weiter auszog.
Ellen richtete ihren BH. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn nicht auszuziehen. Sie hatten einen Plan – aber der Erpresser auch.
»Hallo, Frau Faber«, meldete sich der Erpresser. Es waren exakt zwei Stunden vergangen. Er hatte eine männliche Vorlesestimme gewählt. Ellen rechnete sowieso mit einem Mann auf der Gegenseite, und so fiel ein Verwirrungsfaktor weg.
»Hallo. Wie darf ich Sie eigentlich nennen?« Ellen hatte sich vorgenommen, im Gespräch mehr über den Erpresser herauszufinden.
»Netter Versuch. Sie wissen doch, dass es bei mir nichts umsonst gibt. Wie viel würden Sie denn für meinen Namen bezahlen?«
»Nichts. Sich beim Namen zu nennen, ist einfach ein Gebot der Höflichkeit.«
Ein kurzes Lachen erklang. »Ich glaube eher, dass Sie nicht bezahlen wollen . Ihre Währung wird langsam knapp. Sehr knapp, wenn ich Sie so ansehe.«
»Kommen Sie zur Sache«, sagte Ellen. Es reichte ihr, wenn unzählige Leute an den Bildschirmen sie in Wonderbra und Stringtanga sahen. Das musste jetzt nicht noch ausgewalzt werden.
»Oh, Ihre Währungsreserven gehören zur Sache. Schließlich sollen Sie damit bezahlen, wenn Sie dieses Level erfolgreich beenden wollen.«
»Noch haben Sie nicht gewonnen. Worum soll es heute gehen?«
»So voller Energie? Wunderbar. Ich liebe es, wenn Sie mit Elan kämpfen.«
»Warten Sie ab, ob Sie das am Ende auch noch lieben.«
»Machen Sie sich darum keine Sorgen. Ich gewinne immer.«
Ellen warf einen kurzen Blick zu Khalid. Der zuckte mit den Schultern. Offenbar war die Verbindung immer noch nicht zurückzuverfolgen. Das wäre auch zu einfach gewesen. Der Erpresser nutzte wie zuvor manipulierte Rechner im Ausland als Zwischenstationen. In diesem Stadium der Verhandlungen war Small Talk nur Zeitverschwendung. Wenn sie den Erpresser oder die Bombe endlich lokalisiert hätten, sah es anders aus.
»Fangen wir an«, sagte Ellen, »oder haben Sie etwa keinen Plan mehr?«
Auf dem Monitor erschien für alle gut sichtbar »120 + 2«.
Ellen atmete tief durch. So viele Menschen standen also auf dem Spiel. Sie hatte sich darauf eingestellt, dass der Erpresser den Einsatz erhöhte, trotzdem war es eine große Verantwortung. Ellen wusste aus Gesprächen mit Marina Wirtz vom Psychologischen Dienst, dass sie sich davor hüten musste, zu sehr an die vielen Schicksale zu denken, die hinter dieser blanken Zahl standen. Gerade um diese Menschen zu retten, musste Ellen mit einer gewissen Distanz herangehen.
Denk nicht an die Zahl. Gib einfach dein Bestes.
Aber etwas verwirrte sie doch. »Was soll diese Rechenaufgabe?«, fragte sie.
Eine Fanfare ertönte. »Gut aufgepasst. Ich dachte, auf diesem Level führen wir einen kleinen Bonus ein. Ich bin sicher, er wird Sie ganz besonders motivieren.«
Wieder wurde ein Lachen eingespielt, das dieses Mal klang wie von einem gemeinen Kobold.
Ellen hatte keine Idee, was die »+ 2« bedeuten sollten. Es konnte nur eine neue Teufelei des Erpressers sein. Die Schweißperlen auf ihrer Haut wuchsen. Trotz ihrer spärlichen Kleidung wurde Ellen warm.
»Was ist die Aufgabe für heute?«
Der Monitor teilte sich. Auf der rechten Hälfte war eine dunkle Linie auf hellbraunem Grund zu sehen. Die linke Hälfte zeigte einen weißen rechten Winkel.
»Was soll das?«
»Das sollen Sie herausfinden. Großzügig, wie ich bin, gebe ich Ihnen dazu volle tausend Sekunden.«
Ellen rechnete blitzschnell. Tausend Sekunden entsprachen etwas mehr als sechzehn Minuten. Das war eine Menge Zeit. Wahrscheinlich war die Aufgabe deshalb umso schwieriger. Die Bilder verschwanden, und die Ziffer Tausend erschien. Dann kamen die Bilder zurück, um wieder zu verschwinden.
999.
Die Bilder.
998.
Wieder die Bilder. Präzise wie ein Pulsschlag wechselten sich die Ziffern mit den Bildern ab.
»Wir
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