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Zehntausend Augen

Zehntausend Augen

Titel: Zehntausend Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Seibel
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entgingen ihr nicht. Beides war sogar wichtiger als die gesprochenen Worte, wenn es darum ging, sich ein Bild des Gegenübers zu machen und dessen wahre Motive und Schwachstellen zu erkennen. In dieser Woche fühlte Marina sich hilflos wie nie zuvor. Ihr ganzer psychologischer Werkzeugkasten war ihr aus der Hand geschlagen worden. Es gab nur Worte, die von einer Software vorgelesen wurden, keine verräterische Körpersprache, keine menschliche Stimme. Marina fühlte sich, als ob man ihr Augen und Ohren genommen hätte. Sie versuchte, trotzdem etwas herauszufinden, doch sie kam genauso wenig voran wie ihre Kollegen der Spurensicherung, die weder Fingerabdrücke noch andere Spuren an den Tatorten fanden.
    Als routinierte Psychologin war Marina in der Lage, die eigene Hilflosigkeit perfekt zu überspielen. Aber als Ellen jetzt in der Mitte der Zentrale stand, nackt bis auf ihren Slip, da hätte Marina um nichts in der Welt mit ihr tauschen wollen. Die Raffinesse, mit der der Erpresser Ellen vorführte und alle ihre Pläne zerstörte, ließ Marina trotz der sommerlichen Temperaturen frösteln. Alle Kollegen sahen Ellen an. Daudert starrte unverhohlen auf ihre nackte Brust. Ellen rührte sich nicht. Da ging Marina zu Ellen, hob den BH vom Boden auf und zog sie am Arm zur Tür hinaus.
    »Kommen Sie. Ich bringe Sie hier raus.«
    Ellen ging ein paar Schritte mit, dann wandte sie sich zur Zentrale um. »Aber es muss doch hier weitergehen.«
    »Das machen schon die Kollegen. Sie haben genug für heute geleistet.« Marina hielt Ellen den BH hin.
    Während Ellen den BH wieder anzog, holte Marina die restliche Kleidung von Ellen aus der Zentrale. Ellen zog sich noch auf dem Flur an. Dann ging Marina zielstrebig voran in die Tiefgarage.
    »Ich glaube, Sie können einen Kaffee vertragen. Aber nicht hier. Ein Ortswechsel würde Ihnen guttun. Ich kenne ein kleines Café nicht weit von hier.«
    Ellen folgte Marina wortlos.
    Marina steuerte ihren Audi A4 die Rampe zur Ausfahrt hoch. »Ducken Sie sich«, sagte Marina.
    Jetzt sah Ellen auch die beiden Reporter, die seitlich auf dem Bürgersteig standen und die Ausfahrt im Blick hielten, die Kameras schussbereit.
    »Mist«, sagte Ellen, rutschte ganz tief in den Sitz und zog den Kopf ein. Jetzt war es von Vorteil, dass sie klein war. Die Reporter zuckten kurz mit ihren Kameras, aber entspannten sich sofort wieder. Sie konnten nur Marina sehen, und die war nicht relevant für sie.

41
     
    »Sie sind nicht zum ersten Mal hier?« Ellen folgte Marina, die zielstrebig auf den Eingang des unscheinbaren Hauses zuging. Nur ein kleines Schild neben der Tür deutete auf ein Café hin. Sie gingen hinab in den Keller und kamen in einen gemütlich eingerichteten Raum mit nur sechs Tischen. Außer einem Pärchen, das sich angeregt unterhielt, gab es nur noch eine Bedienung, die Marina freundlich begrüßte.
    »Jeder braucht gelegentlich einen Rückzugspunkt.« Marina setzte sich an den Tisch, der am weitesten von dem Pärchen entfernt war.
    »Dann nehmen Sie sicher nicht oft jemanden aus dem LKA mit hierhin.«
    »Sie sind die Erste.«
    »Danke – fürs Herausholen aus dem LKA und dass Sie mich mit an Ihren sicheren Ort genommen haben.«
    Die Bedienung brachte den bestellten Cappuccino. Ellen nahm schweigend einen Schluck. Sie dachte an Hanna und Elias. Wie mochte es den beiden wohl gehen?
    »Ich muss sehr oft aus beruflichen Gründen Fragen stellen«, begann Marina. »Da ist es gar nicht leicht, wenn man es persönlich will.«
    »Fragen Sie doch einfach.«
    »Ich würde gerne wissen, wie es Ihnen geht.«
    Das war doch eine typische Psychologenfrage. »Wirklich nicht beruflich?« Ellen rührte in ihrem Cappuccino.
    »Nein.«
    »Okay, aber dann antworten Sie auch ehrlich, wenn ich etwas frage.«
    Marina nickte.
    Ellen zögerte kurz. »Ich fühle mich, als hätte man mich in einen riesigen Mixer geworfen«, sagte sie dann leise. »Wenn ich einen Plan habe, wird er zerrissen. Wenn ich mir vornehme, etwas auf keinen Fall zu tun, dann werde ich dazu gezwungen. Und wie es weitergehen soll, weiß ich auch nicht. Reicht Ihnen das?«
    »Das reicht. Und was wollen Sie von mir wissen?«
    Ellen ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. An den Wänden hingen Fotos aus dem Spreewald. Sie strahlten Ruhe und Frieden aus, genau, was Ellen brauchte.
    »Warum Sie mich da rausgeholt haben.« Ellen war sich immer noch unsicher, ob die Wirtz sie nicht doch psychologisch sezieren wollte.
    »Weil ich es abscheulich finde,

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