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Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Zehnter Dezember: Stories (German Edition)

Titel: Zehnter Dezember: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Saunders
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Ihnen nahelegen, dass, wenn Sie dasselbe über Heathers Vergangenheit wüssten wie ich, Ihnen die Idee, Heather kurz einmal in einen Zustand von Trauer, Übelkeit und/oder Entsetzen zu bringen, nicht mehr als das Schlimmste auf der Welt erscheinen würde? Nein, darf ich nicht.«
    »Schon gut, schon gut«, sagte ich.
    »Sie kennen mich«, sagte er. »Wie viele Kinder habe ich?«
    »Fünf«, sagte ich.
    »Wie heißen sie?«, fragte er.
    »Mick, Todd, Karen, Lisa, Phoebe«, sagte ich.
    »Bin ich ein Ungeheuer?«, sagte er. »Denke ich hier im Haus an Geburtstage? Und als ein gewisser Mensch hier an einem Sonntag einen Pilz in der Leistengegend kriegte, ist da ein gewisser anderer Mensch rüber in die Apotheke gefahren und hat die Salbe geholt, sie sogar aus eigener Tasche bezahlt?«
    Das war wirklich nett von ihm gewesen, aber es kam mir irgendwie unprofessionell vor, dass er es jetzt erwähnte.
    »Jeff«, sagte Abnesti. »Was soll ich Ihnen jetzt sagen? Soll ich sagen, dass Ihre Freitage in Gefahr geraten? Das kann ich ohne weiteres sagen.«
    Das war schäbig. Meine Freitage bedeuteten mir eine Menge, und das wusste er. Freitags durfte ich mit Mom skypen.
    »Wie lang geben wir Ihnen immer?«, fragte Abnesti.
    »Fünf Minuten«, sagte ich.
    »Wie wär’s, wir machen zehn daraus?«, sagte Abnesti.
    Mom schaute immer so tieftraurig drein, wenn unsere Zeit vorbei war. Es hatte sie beinahe umgebracht, als ich verhaftet wurde. Die Gerichtsverhandlung hatte sie beinahe umgebracht. Sie hatte ihre Ersparnisse aufgebraucht, um mich aus dem richtigen Gefängnis hierher verlegen zu lassen. Als ich klein war, hatte sie langes braunes Haar bis zu den Hüften getragen. Während der Prozess lief, ließ sie es sich abschneiden. Dann wurde es grau. Jetzt war es nur ein weißer Bob in Mützchengröße.
    »Infusion läuft?«, fragte Abnesti.
    »Roger«, sagte ich.
    »In Ordnung, wenn wir Ihre Sprachzentren boosten?«, fragte er.
    »Okay«, sagte ich.
    »Heather, hallo?«, sagte er.
    »Guten Morgen!«, sagte Heather.
    »Infusion läuft?«, fragte er.
    »Roger«, sagte Heather.
    Abnesti bediente seine Fernbedienung.
    Das Dunkelfloxx ™ fing an zu laufen. Schon bald weinte Heather leise. Dann sprang sie hoch und tigerte auf und ab. Dann weinte sie abgehackt. Ein bisschen hysterisch sogar.
    »Das mag ich gar nicht«, sagte sie mit bebender Stimme.
    Dann erbrach sie sich in den Abfalleimer.
    »Sprechen Sie, Jeff«, sagte Abnesti zu mir. »Sprechen Sie viel, in allen Einzelheiten. Machen wir was Nützliches draus, okay?«
    Alles in meiner Infusion fühlte sich eins a an. Plötzlich salbaderte ich hochpoetisch los. Ich salbaderte über das, was Heather gerade tat. Ich salbaderte über meine Gefühle darüber, was Heather gerade tat, alles hochpoetisch. Und ich fühlte ungefähr Folgendes: Jeder Mensch geht aus einem Mann und einer Frau hervor. Jeder Mensch wird bei seiner Geburt – oder hat zumindest das Potenzial dazu – von seiner/ihrer Mutter/Vater geliebt. Folglich ist jedes Menschenwesen wert, geliebt zu werden. Während ich Heather leiden sah, erfüllte eine große Zärtlichkeit meinen Körper, eine Zärtlichkeit, die schwer von einer Art weitreichendem existenziellem Brechreiz zu unterscheiden war; mit anderen Worten, warum werden solch wunderschöne geliebte Hüllen zu den Sklaven so vieler Schmerzen gemacht? Heather, dargeboten als ein Bündel Schmerzrezeptoren. Heathers Geist war im Fluss und in Gefahr, ruiniert zu werden (durch Schmerz, durch Kummer). Warum? Warum war sie so gemacht? Warum so zerbrechlich?
    Armes Kind, dachte ich, armes Mädchen. Wer hat dich geliebt? Wer liebt dich?
    »Bleiben Sie dran, Jeff«, sagte Abnesti. »Verlaine! Was denken Sie? Irgendwelche Überreste romantischer Liebesgefühle in Jeffs Verbalkommentar?«
    »Nein, würd ich sagen«, sagte Verlaine über Lautsprecher. »Das sind alles bloß ziemlich grundlegende menschliche Gefühle bei dem.«
    »Hervorragend«, sagte Abnesti. »Verbleibende Zeit?«
    »Zwei Minuten«, sagte Verlaine.
    Bei dem, was als Nächstes passierte, konnte ich kaum zusehen. Unter dem Einfluss von Verbaluce ™ , VeriSprech ™ und PlauderLeicht ™ war es mir aber auch unmöglich, es nicht nachzuerzählen.
    In jedem Arbeitsraum standen eine Couch, ein Schreibtisch und ein Stuhl, alle so gebaut, dass man sie unmöglich auseinandernehmen konnte. Und Heather fing jetzt an, ihren unmöglich auseinanderzunehmenden Stuhl auseinanderzunehmen. Ihr Gesicht war eine Grimasse der Wut. Sie

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