Zehnundeine Nacht
Vater.»
«Senil», sagte der König.
«Bald sprach der alte Mann nur noch von dieser Reise. Jeden Tag malte er sie sich genauer aus. Kein Flugzeug kam dafür in Frage, sondern nur ein Schiff. So wie er gekommen war, damals vor mehr als siebzig Jahren, als er in St. Petersburg ins Zwischendeck hinuntergestiegen war und es erstwieder verlassen hatte, als man sich der Freiheitsstatue näherte. Man konnte ihm hundert Mal erklären, dass es keine Passagierschiffe mehr gäbe, und auf dieser Strecke schon gar nicht. ‹Schiffe gibt es immer›, sagte er und war durch nichts von seinem Plan abzubringen. Wenn man ihm widersprach, regte er sich auf, manchmal so heftig, dass man einen Herzanfall befürchten musste.»
«Das wäre eine Lösung gewesen», sagte der König.
«Aber nicht die, die sein Sohn sich wünschte», sagte die Prinzessin. «Er sprach mit den Ärzten, und sie meinten, wenn ein alter Mensch sich so etwas Unmögliches in den Kopf setze, vor allem einer, der nichts mehr sehe, obwohl seine Augen doch völlig in Ordnung seien, dann könne das nur bedeuten, dass sich das Ende nähere. Da könne die Medizin nicht mehr heilen, sondern nur noch erleichtern. Zum Glück gäbe es Medikamente, die sich in solchen Situationen schon oft bewährt hätten. Die Patienten würden damit ruhig und friedlich, sagten die Ärzte, und irgendwann schliefen sie dann ein, ohne sich noch weiter mit Phantasien gequält zu haben.»
«Und ohne ihr Testament noch weiter zu ändern», sagte der König.
«Auch das wäre dem Sohn unterdessen egal gewesen», sagte die Prinzessin. «Er fuhr sogar drei Stunden weit zu der Universität, an der die Studentin sich eingeschrieben hatte, und bat sie, zurückzukommen und seinem Vater weiter russische Märchen zu erzählen. Sie ließ sich den Zustand des alten Mannes schildern und lehnte dann ab. Die Zeit für Märchen sei wohl vorbei, meinte sie. Aber sie hatte eine bessere Idee. Eine viel, viel bessere Idee.»
«Kommt jetzt der lustige Teil der Geschichte?», fragte der König.
«Jetzt kommt der Schluss der Geschichte», sagte die Prinzessin. «Als der Sohn seinen Vater das nächste Mal besuchte, sagte er zu ihm: ‹Es fahren zwar nicht mehr viele Schiffe nach Russland, aber ich habe doch eines für dich gefunden.›
‹Lang genug hast du dazu gebraucht›, sagte sein Vater. ‹Es fährt schon morgen ab›, sagte der Sohn. ‹Wir müssen anfangen, deine Koffer zu packen.›
Der alte Mann bestand darauf, dass er nicht viel brauche. ‹Nur eine kleine Tasche›, sagte er. ‹Mehr hatte ich damals auch nicht dabei.›
‹Diesmal wirst du nicht im Zwischendeck reisen›, sagte sein Sohn, ‹mit hundert anderen, Hängematte an Hängematte. Du wirst eine Kabine in der ersten Klasse haben, und einen eigenen Steward, der dir alles bringt, was du brauchst.›
‹Das ist mir egal›, sagte der Alte. ‹Solang es nur ein Schiff ist.›
‹Er wird dir heiße Fleischbrühe servieren, jeden Morgen und jeden Nachmittag, wenn du es dir in deinem Liegestuhl an Deck bequem gemacht hast.›
‹Deck oder nicht Deck›, sagte sein Vater. ‹Wenn man nichts mehr sieht, ist die Aussicht dieselbe.›
‹Ich hole dich ab und bringe dich zum Hafen.›
‹Ich kann auch ein Taxi nehmen›, sagte der alte Mann. ‹Sie gehören sowieso alle mir.›
Am nächsten Morgen berichtete die Pflegerin, ihr Schützling habe eine unruhige Nacht verbracht. Immerwieder habe er im Schlaf geredet, in einer Sprache, die sie nicht kenne. ‹Könnte es Russisch gewesen sein?›, fragte der Sohn. Doch, meinte sie, es könne durchaus Russisch gewesen sein.
Die Reisetasche war gepackt, und sie machten sich auf den Weg. Der alte Mann roch das Wasser, noch bevor sie das Ende der zweiundvierzigsten Straße erreicht hatten.»
«Woher kennst du dich in New York aus?», fragte der König.
«In meinem Beruf braucht man viel Urlaub.»
«Verstehe ich nicht», sagte der König. «Du liegst doch nur die ganze Zeit im Bett.»
«Sie kamen beim Pier an», erzählte die Prinzessin weiter, «und der alte Mann stützte sich schwer auf den Arm seines Sohnes. ‹Ist das Schiff bereit?›, fragte er.
‹Es ist alles bereit›, sagte der Sohn. Dann gingen sie an Bord.»
«Und das Schiff fuhr tatsächlich nach Russland?»
«Natürlich nicht», sagte die Prinzessin. «Solche Schiffe gibt es schon lang nicht mehr. Es war eines der Rundfahrtboote, die ihnen gehörten. In den nächsten Tagen fuhr es immer wieder den Hudson hinunter und den East River
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