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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wem es gehörte und was es damit auf sich hatte. Das konnte er, weil er von den wirklichen Geschichten keine Ahnung hatte.»
    «Du meinst: obwohl er keine Ahnung hatte.»
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Weil. Tatsachen hätten ihn nur gestört. Er kannte die Häuser nicht, aber die Menschen dafür umso besser. Beobachtete sie und passte dann seine Antworten dem Fragesteller an. Das war auch nötig, wenn man etwas verdienen wollte. Die Fremdenführer wurden nicht bezahlt und lebten nur von Trinkgeldern.
    Da war zum Beispiel eine Villa am Ufer des East River, eine bonbonfarbige verschnörkelte Scheußlichkeit mit immer geschlossenen Fensterläden. Der gab er dreimal am Tag einen neuen Besitzer, je nachdem, was für Leute gerade an Bord waren.
    Für Jungvermählte auf der Hochzeitsreise, für die alles romantisch sein musste, erfand er einen reichen Mann, dem war seine Braut am Tag vor der Hochzeit gestorben, und jetzt hauste er schon bald fünfzig Jahre ganz allein in den prächtigen Räumen, die er für ihr gemeinsames Glück eingerichtet hatte. Das Tageslicht scheute er. Er ließ sich die notwendigsten Lebensmittel in einer Kiste vor die Tür stellenund holte sie nur nachts herein. Seit Jahrzehnten hatte ihn kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen.
    Männergesellschaften, die auf ihrem frauenlosen Ausflug etwas erleben wollten, erzählte er von einer kleinen blonden Broadway-Choristin, die wollte einen aufdringlichen Verehrer loswerden und sagte deshalb schnippisch zu ihm: ‹Also gut, ich gehe mit dir ins Bett – aber nur im Schlafzimmer meiner eigenen Villa.› Und so ließ der Mann, dickbäuchig und glatzköpfig, die Villa bauen, und als er gerade schnaufend seinen Lohn einkassierte, da traf ihn der Schlag. Dann lachten die Männer, tranken ihr Bier, und ein gutes Trinkgeld war gesichert.
    Er erzählte von einem deutschen Spion und von der Mätresse des Bürgermeisters, von einem Gangsterkönig und von einem geheimnisvollen Orientalen. Er nahm sich immer vor, einmal herauszufinden, wem die Villa wirklich gehörte, aber er kam nie dazu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, etwas zu werden.
    Von den gesparten Trinkgeldern kaufte er sein erstes Taxi. Sechzehn Stunden am Tag saß er hinter dem Steuer. Weil er sich nicht scheute, auch in die Quartiere zu fahren, die andere Chauffeure mieden, konnte er bald einen zweiten Wagen anschaffen und dann noch einen und noch einen. Später kamen Busse dazu, und zu jeder Reise, die er veranstaltete, verfasste er eine so phantasievolle Beschreibung, dass sich sogar Leute zum Mitfahren anmeldeten, die eigentlich lieber zu Hause geblieben wären. Sie wollten die versprochenen Erlebnisse nicht verpassen. Er war auch der Erste, der auf den Einfall kam, aufstrebende junge Schauspieler als Reisebegleiter einzustellen. Sie schilderten dieAttraktionen der Landschaft so überzeugend, dass es völlig überflüssig wurde, aus dem Fenster zu schauen.
    Irgendwann, das war in den fünfziger Jahren, kaufte er dann auch die Rundfahrtboote, die immer noch jeden Tag mit ihren Touristenladungen rund um Manhattan schipperten. Den Hudson River hinunter und den East River hinauf. Er steigerte ihren Umsatz, indem er für die gleichen Touren immer neue Themen erfand. Das Manhattan der Reichen und Schönen oder das Manhattan der großen Verbrecher. Als er dann wirklich reich war, wollte er auch die verschnörkelte Villa erwerben, über die er in seiner Jugend so viele Geschichten erfunden hatte. Aber die war schon längst abgerissen und durch ein Geschäftshaus ersetzt worden.
    Unterdessen war er fast neunzig Jahre alt. Seit er aus Russland gekommen war, hatte er die Stadt nie wieder verlassen.»
    «Ich war noch nie in New York», sagte der König düster. «Die Welt ist zu groß, und man kommt zu nichts.» Es war ein schwerer Rotwein gewesen, und die Wirkung hielt immer noch an.
    «Mit der Führung der Geschäfte», erzählte die Prinzessin weiter, «hatte der alte Herr schon lang nichts mehr zu tun. Das besorgte alles sein Sohn. Der war ein angesehener Geschäftsmann, saß in allen wichtigen Komitees und war Mitglied in allen richtigen Vereinen. Wer als Politiker in New York etwas werden wollte, kam zu ihm und bat um seine Unterstützung.»
    «In Politiker habe ich nie investiert», sagte der König. «Sie werden immer im falschen Moment abgewählt.»
    «Die Geschäfte liefen gut, denn er vergaß nie, was ihm sein Vater eingetrichtert hatte. ‹Wir verkaufen keine Reisen›, hatte er immer gesagt.

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