Zehnundeine Nacht
‹Wir verkaufen Träume.›
Er liebte seinen Vater, weil der ihm mit seiner Phantasie die Kindheit verzaubert hatte. Aus dem Weg zur Schule hatte er jeden Tag ein neues, spannendes Erlebnis gemacht, den Schleichpfad durch einen Dschungel voller wilder Tiere oder den feierlichen Aufmarsch zu einer Königskrönung. Beim Essen konnte sich in jeder Suppenterrine ein kostbarer Edelstein verbergen, und die Zeitung, die sein Vater gern bei Tisch las, war voller geheimer Botschaften. Man musste sie nur entschlüsseln und konnte das Land vor den gefährlichsten Feinden retten. Und nach all diesen Abenteuern ging man als kleiner Junge nicht einfach zu Bett, sondern enterte ein Piratenschiff oder stürmte ein Westernfort. Schöner konnte eine Jugend nicht sein.»
«Mein Vater war ein Arschloch», sagte der König.
«So schlimm?», fragte die Prinzessin.
«Noch schlimmer», sagte der König. «Ich habe ihn nie kennengelernt.» Seine philosophische Laune war jetzt verflogen, und nur das Sodbrennen war übriggeblieben. «Erzähl weiter», sagte er. «Ich brauche Ablenkung.»
«Gern», sagte die Prinzessin. «Der Sohn besuchte seinen Vater jeden Tag und erzählte ihm alles, was im Geschäft passiert war. Bis vor kurzem hatte ihm der alte Mann immer noch den einen oder anderen Ratschlag dazu gegeben oder hatte doch zumindest zustimmend genickt oder zweifelnd den Kopf hin und her gewiegt. Wenn ihm sein Sohn jetzt etwas zeigen wollte, den Katalog mit den modernsten Luxusbussen oder die Pläne für eine neue Bar auf einem derSchiffe, dann schob er die hingestreckten Papiere von sich weg und sagte: ‹Das interessiert mich alles nicht mehr.› Stundenlang saß er nur noch da, das Kinn auf die Krücke seines Gehstocks gestützt.
Sein Sohn war besorgt um ihn und beschloss, dass in Zukunft immer eine Pflegerin im Haus sein müsse. Er beauftragte eine Agentur, und die schickte zuverlässige, erfahrene Frauen in gestärkten Uniformen. Sie kochten Tee und lösten Kreuzworträtsel. Wenn sie versuchten, den alten Mann mit harmlosem Geplauder zu unterhalten, dann wollte der nichts hören. Zu seinem Sohn sagte er: ‹Ich brauche keine Gesellschaft. Ich brauche gar nichts mehr.›»
Der König schlug sich mit der flachen Hand auf den schmerzenden Bauch. «Da hast du dir ja wieder mal eine wahnsinnig lustige Geschichte ausgedacht», grummelte er. «Ein alter Mann, den nichts mehr interessiert. Wahnsinnig lustig.»
«Es bleibt ja nicht so», sagte die Prinzessin.
«Das will ich hoffen», sagte der König.
«Als er wieder einmal zu seinem täglichen Besuch kam, hörte der Sohn schon im Flur, wie sein Vater lachte. So herzlich lachte, wie er es seit Monaten nicht vom ihm gehört hatte. Er trat ein und wollte ihn begrüßen, aber der alte Mann legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf.
Die Pflegerin, die an diesem Tag Dienst hatte, war ungewohnt jung und trug auch keine Schwesterntracht wie ihre Kolleginnen. Sie war gekleidet wie ein junges Mädchen, das sich sein Studium hinter dem Tresen eines Hamburger- oder Pizzaladens verdient. Mit gekreuzten Beinen saß sieauf dem Boden und beendete die Geschichte, die den alten Mann so zum Lachen gebracht hatte: ‹Der Zauberer sagte seinen Spruch auf›, sagte sie, ‹und sein Zauberstab sprühte Funken. Aber weil er Arthritis hatte und seinen Arm nicht mehr gut bewegen konnte, zeigte er auf die falsche Stelle und verwandelte nicht den Haufen Zwiebeln in Gold, sondern die Nase des Zaren.›
Der alte Mann kicherte. ‹Sie erzählt mir Märchen›, sagte er.
‹Durch eine goldene Nase kann man nicht atmen, und deshalb fiel der Zar tot um, was im Volk großen Jubel auslöste. Er hatte seine Untertanen mit Steuern und Abgaben geplagt, und darum fanden die Leute, er hätte sich eine goldene Nase verdient.›
‹Russische Märchen›, sagte der alte Mann.
‹Sein Nachfolger wurde mit großem Pomp auf den Thron gesetzt, und drei Tage lang floss der beste Wodka aus allen Brunnen des Landes. Die goldene Nase aber liegt immer noch in irgendeiner Schatztruhe im Kreml.
So›, sagte die junge Frau und stand auf. ‹Jetzt, wo Sie Besuch haben, kann ich mich ja verabschieden.›
‹Schade›, sagte der alte Mann.
‹Hat die Agentur Sie geschickt?›, fragte der Sohn.
‹Nicht direkt. Eigentlich hätte meine Mutter heute hier sein müssen. Aber sie ist mit einem so fürchterlichen Hexenschuss aufgewacht, dass ich für sie eingesprungen bin. Ich bin Studentin, aber jetzt sind
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