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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Semesterferien.›
    ‹Woher kennen Sie russische Märchen?›
    ‹Ich kenne keine›, sagte die junge Frau. ‹Aber man kann sie sich ja ausdenken.›»
    «So wie du das machst», sagte der König.
    «So ähnlich», sagte die Prinzessin. «Dem alten Mann hatten die Märchen so gut gefallen, dass er darauf bestand, die Studentin müsse am nächsten Tag wiederkommen, und am übernächsten auch. Ihre Gesellschaft schien ihm gutzutun. Deshalb stellte sein Sohn sie gern ein und bezahlte ihr sogar mehr als den Pflegerinnen von der Agentur. Ihr kam der Job auch gelegen. Sie hatte schon lange nach einer Möglichkeit gesucht, sich etwas dazuzuverdienen.
    Ein paar Wochen lang ging alles gut. Sie erzählte dem alten Mann Geschichten aus einem erfundenen Russland und brachte ihn damit zum Lachen. Manchmal auch zum Weinen, aber es waren angenehme Tränen. Wie im Kino, wenn einen das Happy End überwältigt.»
    «Solchen Schrott sehe ich mir nie an», sagte der König. Und fügte verächtlich hinzu: «Märchen.»
    «Russische Märchen», sagte die Prinzessin. «Es kamen Popen drin vor und Bojaren und Kosaken, die Kirchen hatten Zwiebeltürme, und die Wälder waren voller Pilze. Das Russland, das er damals verlassen hatte, war ganz anders gewesen, und doch fühlte sich der alte Mann an seine Jugend erinnert, eine viel glücklichere Jugend, als er sie tatsächlich gehabt hatte.
    Eines Tages, er wollte gerade seinen Vater besuchen, begegnete der Sohn vor dem Haus zu seiner Überraschung einem Notar, den er von vielen Geschäftsterminen her kannte.
    ‹Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie bei der Sache dabei sein würden›, sagte der Notar.
    ‹Welche Sache?›
    ‹Sie wissen doch sicher Bescheid›, sagte der Notar. ‹Ihr Vater hat sein Testament geändert.›»
    «So etwas Ähnliches habe ich erwartet», sagte der König und war sehr zufrieden mit sich. «Die junge Frau war natürlich eine Erbschleicherin, und der alte Trottel hat ihr sein ganzes Vermögen vermacht.»
    «So weit ging er nicht», sagte die Prinzessin. «Aber er wollte für ihre Ausbildung sorgen und auch noch etwas darüber hinaus. Für seinen Sohn war das ein großes Problem. Nicht wegen der Summe. Die ließ sich ohne weiteres verkraften. Aber wenn so etwas einmal anfängt, kann es überall hinführen ... »
    «Richtig», sagte der König.
    «... und wer konnte schon wissen, was sein Vater nicht noch alles unterschreiben würde? Er versuchte mit ihm zu reden, aber der alte Mann wurde störrisch und meinte, noch sei er nicht bevormundet, die Firma und das ganze Vermögen gehörten immer noch ihm, und wenn es ihm passe, könne er es verschenken, wem er wolle.»
    «Wenn sie alt werden, werden sie stur», sagte der König. Trotz seines Sodbrennens war er wieder ganz philosophisch geworden. «Nur wenn man Glück hat, sind sie schon vorher tot.»
    «Wenn man Glück hat», wiederholte die Prinzessin.
    «Hat er ein bisschen nachgeholfen?»
    «Nein», sagte die Prinzessin. «Er liebte seinen Vater ja. Er tat nur, was er tun musste, um sein Erbe zu sichern. Er entließ die Studentin. Fristlos. Seinem Vater erzählte er, sie habe von sich aus gekündigt, weil sie sich auf das neue Semester vorbereiten müsse. Zur Pflege kamen jetzt wiederdie bewährten Frauen in den gestärkten Uniformen. Sie versuchten mit dem alten Mann zu plaudern, und er weigerte sich, sie auch nur anzuhören.
    Von diesem Tag an ging es rapid bergab mit ihm. Als er sich die Pläne für ein ganz neues Ausflugsschiff ansehen sollte, etwas, was ihn früher brennend interessiert hätte, drehte er nicht einmal den Kopf. ‹Ich sehe nichts mehr›, sagte er. ‹Ich bin blind.› Sein Sohn schleppte ihn zu den teuersten Spezialisten, und keiner konnte etwas feststellen. ‹Die Augen sind völlig gesund›, sagten sie, ‹geradezu beneidenswert für sein Alter.› Aber der Greis stieß immer häufiger sein Teeglas um oder stolperte über Türschwellen. Die Pflegerinnen hoben ihn auf und kochten neuen Tee. Dabei nickten sie wissend und meinten, es sei nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebten.
    Sein Sohn wollte ihn in der teuersten Klinik anmelden, doch der Greis weigerte sich. ‹Wenn ich mich irgendwo behandeln lasse›, sagte er, ‹dann nur in Russland. In Moskau haben sie die besten Ärzte. Und überhaupt: Ich will noch einmal meine Heimat sehen, bevor ich sterbe.›
    ‹Ich denke, du siehst nichts mehr›, sagte der Sohn. ‹Vielleicht werde ich dort wieder gesund›, sagte der

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