Zehnundeine Nacht
hinauf, und dann den East River hinunter und den Hudson hinauf. Immer dieselbe Strecke.
Am Tag saß der alte Mann in einem Korbstuhl an der Reling. Der Steward zupfte ihm die Decke über den Beinen zurecht und brachte ihm heiße Fleischbrühe. Es war kein richtiger Steward, nur der Mann, der sonst auf dem Boot die Hot Dogs verkaufte. Er trug auch kein weißes Jackett. Aber wenn der alte Mann ihn fragte: ‹Sind wir schon baldin Russland?›, dann wusste er, was er zu antworten hatte. ‹Bis Russland ist es noch weit.›
Am Abend gab es immer ein großes Diner, obwohl der Greis nur noch sehr wenig aß. Wenn man erster Klasse über den Ozean fährt, gehören große Diners dazu. Sie hatten ihm einen Tisch in dem Glasverschlag aufgestellt, in dem sich sonst die Touristen vor dem Regen schützten. Beim Essen hätte er die Lichter von Manhattan sehen können, aber er sah ja nichts mehr. Den Verkaufsladen für die Souvenirs hatten sie auch ausgeräumt und seine Kabine daraus gemacht. An der Wand hingen noch die Preislisten für die Schneekugeln mit dem Empire State Building und die T-Shirts mit der Freiheitsstatue, aber er war ja blind. Wenn sie ihm beim Essen sein Besteck in die Hand drückten oder ihn hinterher zu seinem Bett führten, fragte er jedes Mal: ‹Sind wir schon bald in Russland?› Und dann antworteten sie: ‹Bis Russland ist es noch weit.›
Erst wenn er eingeschlafen war – die Ärzte hatten ein Mittel verschrieben, das seinen Schlaf tief und traumlos machte –, legte das Schiff an. Sie füllten den Treibstofftank auf und nahmen frische Lebensmittel an Bord. Wenn er aufwachte, waren sie schon längst wieder auf hoher See, unterwegs nach Russland. Immer den Hudson hinunter und den East River hinauf, den East River hinunter und den Hudson hinauf. Ihre Schlaufe führte sie an all den Gebäuden vorbei, zu denen er als junger Reiseführer seine Geschichten erfunden hatte, auch an dem Geschäftshaus, das früher einmal eine verschnörkelte Villa gewesen war. Ihm erzählten sie von riesigen Öltankern, die am Horizont vorbeizögen, von spielenden Delphinen und einmal von einemEisberg. Dann nickte er, als ob er nichts anderes erwartet hätte, und fragte: ‹Sind wir schon bald in Russland?›
Bald aß er seine Fleischbrühe nicht mehr, und beim Galadiner blieb sein Essen unberührt. In dieser Nacht kam sein Sohn an Bord. Er wartete, bis sein Vater am nächsten Morgen wieder in seinem Korbstuhl saß und die immer gleiche Frage stellte. Dann nickte er dem falschen Steward zu, und der antwortete: ‹Ja, jetzt sind wir in Russland.›
Der alte Mann lächelte zufrieden. Weil er den Kopf auf die Krücke seines Gehstocks gestützt hatte, merkte man nicht gleich, dass er gestorben war.»
«Deine Geschichte geht nicht auf», sagte der König. «Er war vielleicht blind, aber doch nicht taub. Er muss doch all die anderen Schiffe gehört haben, die Flugzeuge und unter den Brücken die Autos.»
«Schon möglich», sagte die Prinzessin. «Aber wollte er es denn hören?»
Der König schwieg lange. Dann schlug er sich mit der Hand auf den nackten Bauch. «Hol mir ein Glas Wasser», sagte er. «Ich habe Sodbrennen.»
Die fünfte Nacht
«Es war einmal ...», sagte die Prinzessin. «Oder eigentlich: Es wird einmal sein.»
«Was ist das wieder für ein Quatsch?», fragte der König. «Die Geschichte spielt in der Zukunft.»
«Hast du denn von der Zukunft eine Ahnung?»
«Nein», sagte die Prinzessin. «Zum Glück nicht.»
«Schade», sagte der König und kratzte sich unter dem Bund seiner Pyjamahose. «Ich möchte gern wissen, ob dieser verdammte Pickel hier endlich einmal abheilt.»
«Soll ich dir eine Salbe besorgen?»
«Wenn ich eine Krankenschwester brauche», sagte der König, «lass ich mir eine kommen. Erzähl.»
«Es war einmal – in zwanzig Jahren oder in fünfzig, aber ganz bestimmt noch in diesem Jahrhundert – ein junger Mann, der war schon eine ganze Weile mit seiner Freundin zusammen. Wenn sie nicht in der Zukunft gelebt hätten, wären sie vielleicht sogar verheiratet gewesen. Aber in ihrer Zeit war die Ehe aus der Mode gekommen.»
«Vernünftig», sagte der König.
«Eines Morgens, die beiden lagen noch im Bett, begann exakt um sieben Uhr die Matratze zu vibrieren. Das war eine neue Erfindung und holte einen auf viel angenehmere Weise aus dem Schlaf als ein Wecker.»
«Praktisch», sagte der König.
«Der junge Mann wurde auch sofort wach. Als er sich aufrichtete, sah er, dass neben ihm im
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