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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Fremder, der sich hier auf der Insel niederließ, der musste vor etwas davongelaufen sein. Der musste ein Versteck suchen. Das war nur logisch. Sie war eine Menschenkennerin, ohne Zweifel, das gab ihr ja so viel Macht über die primitiven Leute. Aus kleinsten Anzeichen, aus Gesten oder Mienen setzte sie sich etwas zusammen und verkündete es dann mit viel Brimborium und Tamtam. Als ob ein Geist es ihr ins Ohr geflüstert hätte. Alles Affentheater.
    ‹Du kannst nicht schlafen›, sagte die Hexe. ‹In der Nacht schreist du und gehst mit einer Lampe um dein Haus.›
    ‹Das haben sie dir erzählt.›
    ‹Natürlich›, sagte sie. ‹Aber es wäre nicht notwendig gewesen. Ich weiß, was mit dir los ist.›
    Sie wusste es natürlich nicht. Konnte es gar nicht wissen. Konnte keine Ahnung haben von dem Deal, den er eingegangen war, um seinen Hals zu retten. Den er hatte eingehen müssen. In der Hand hatten sie ihn gehabt. Völlig in der Hand. Seine Eier im Schraubstock. Zwanzig Jahre hatten sie ihm garantiert. Oder noch mehr. Ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. ‹Du warst dabei›, hatten sie gesagt, ‹und dir können wir es beweisen.› In zwanzig Jahren wäre er ein alter Mann gewesen. Ein kaputter alter Mann. Gerade noch gut genug, um auf bitteren Wurzeln herumzukauen und zweimal in der Woche auf ein Postschiff zu warten. ‹Wir besorgen dir auch nette Gesellschaft›, hatten sie gesagt. ‹Damit du dich nicht einsam fühlst in deiner Zelle. Wir suchen dir schon den Richtigen aus, o ja.›
    Das konnte sie alles nicht wissen.
    ‹Einen Typen›, hatten sie gesagt, ‹den es nicht stört, wenn dir einer alle Zähne ausgeschlagen hat. Weil es sich ohne Zähne besser lutscht. Zwanzig Jahre›, hatten sie gesagt. ‹Vielleicht auch mehr.›
    ‹Mag sein›, sagte die Hexe. ‹Mag sein, du hattest keine Wahl. Meinst du, dass sie das milder stimmt?›
    Er hatte seine Aussage hinter einem Vorhang gemacht, über ein Mikrophon, das die Stimme verzerrte. Sein Name war nie genannt worden, aber es würde ihnen nicht schwergefallen sein, sich ihn auszurechnen. Am Schluss, das ‹Lebenslänglich› war schon ausgesprochen, hatte der Richter den Verurteilten gefragt, ob er noch etwas sagen wolle. ‹Nur eins›, hatte er geantwortet. ‹Wir werden ihn erwischen. Ganz egal, wohin er sich verkriecht. Er wird bekommen, was er verdient. Ich bin ein Mann, der Wort hält.›
    Das konnte sie alles nicht wissen. Natürlich nicht.
    ‹Ich bin nicht neugierig›, sagte die Hexe. ‹Ich weiß schon zu viel, und es ist immer das Gleiche. Ich bin gekommen, um dich zu heilen.›
    ‹Ich bin nicht krank.›
    ‹Um deine Angst zu heilen.›»
    «Mmm ...», machte der König. Er schlief immer noch nicht.
    «Er wusste natürlich, dass es Unsinn war», fuhr die Prinzessin fort. «Einen Beinbruch kann man heilen. Einen entzündeten Blinddarm. Aber die Angst?
    Unsinn.
    Andererseits ...
    Wenn ihn seine Nachbarn besuchten, aus Geselligkeit,und weil er einen Eisschrank besaß, dann bezahlten sie ihr kühles Bier gern mit einer Geschichte. Einmal hatten sie ihm von einem Fischer erzählt, dessen Schiff war im Sturm gekentert, und das Meer hatte ihn verschluckt wie ein großes Maul. Sie hatten schon um ihn getrauert auf der Insel, hatten gerade, wie es hier der Brauch war, sein Bild verbrennen wollen, um seine Seele zu befreien. Da war sie aufgetaucht, die Hexe. Hatte das Feuer ausgetreten, mit bloßen Füßen. ‹Er ist nicht tot›, hatte sie gesagt. ‹Er lernt nur eine andere Sprache.›
    Und tatsächlich, so hatten sie ihm das erzählt, war der Fischer wiederaufgetaucht. Mehr als ein Jahr nach seinem Verschwinden. Und er hatte eine neue Sprache gelernt. Nur ein paar Worte, aber doch. An die Trümmer seines Bootes geklammert war er tagelang auf dem Meer getrieben, bis ihn eins dieser riesigen Fangschiffe aufgelesen und mitgenommen hatte. Bis nach Japan. ‹Sakana› hieß Fisch und ‹Ukabu› hieß Schwimmen.
    Und die Hexe hatte es gewusst.
    Unsinn.
    ‹Es ist nicht nötig, dass du mir glaubst›, sagte die Hexe. ‹Ich helfe auch denen, die an mir zweifeln.›
    ‹Wie willst du das anstellen?›, fragte er und hatte damit schon nachgegeben. Wie damals, als sie ihn überreden wollten, den Kronzeugen zu machen. ‹Ich muss mir das überlegen›, hatte er gesagt, und sie waren nicht weiter in ihn gedrungen, weil sie in diesem Augenblick wussten, dass sie gewonnen hatten.
    Die Hexe fasste unter ihre Röcke und holte ein schmales Päckchen hervor, in

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