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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Männer schienen sie zu kennen. Sie redeten aufgeregt durcheinander, und einer von ihnen stemmte sich sogar in die Höhe und rannte, so schnell ihn seine greisen Beine trugen, in Richtung Dorf.
    ‹Wer ist das?›, fragte er in die Runde.
    Er bekam keine Antwort.
    ‹Was sie hier wohl will?›, wunderte sich einer der alten Männer. ‹Es erwartet doch niemand ein Kind.›
    Zum Postschiff hinauszurudern und den schmalen Postsack und die paar Vorräte an Land zu bringen war ein begehrtes Privileg. Richtige, bezahlte Arbeit gab es nicht oft auf der Insel, und für gewöhnlich ließ sich der stolze Amtsinhaber Zeit, ruderte nur mit halber Kraft und rückte, um die Bedeutung seiner Aufgabe zu unterstreichen, das bisschen Ladung immer wieder zurecht. Heute war es anders. Er legte sich in die Riemen, als ob es einen Wettlauf zu gewinnen gäbe. Die dicke Frau saß im Heck des Ruderboots. Sie war so schwer, dass der Bug höher als sonst aus dem Wasser ragte.
    Als der Kiel auf den Ufersand knirschte, standen zwei der alten Männer schon bis zu den Knien im Wasser, um der Besucherin aus dem Boot zu helfen. Sie schob ihre ausgestreckten Hände weg, sprang allein aus dem Boot und stapfte mit nassen Röcken an Land. Die beiden Greise trugen ihr das Gepäck hinterher, zwei verschnürte Stoffbündel.
    Vor ihm blieb sie stehen, befeuchtete ihren Zeigefinger und fuhr damit, wie um die Echtheit seiner hellen Hautfarbezu prüfen, über sein Gesicht. Sie lachte ihn an, mit gelben, lückenhaften Zähnen, und sagte: ‹Komm mich besuchen. Ich kann dir helfen.›
    Dann drehte sie sich weg und ging in Richtung Dorf. Die alten Männer folgten in Einerkolonne, und aus den Hütten rannten ihr schon die jungen entgegen. Es war wie eine Parade.»
    «Nein», sagte der König.
    «Wieso nicht?»
    «Nein, nein, nein», sagte er.
    «Gefällt dir meine Geschichte nicht?», fragte die Prinzessin.
    «Bitte nein. Bitte, bitte, nein.» Er zog die Beine noch enger an den Leib und steckte den Daumen wieder in den Mund. Er hatte wohl doch nicht zu ihr gesprochen.
    «In den nächsten Tagen», setzte die Prinzessin also ihre Geschichte fort, «erfuhr er, dass die dicke Frau Hebamme und Heilerin war, dass sie kranke Zähne zog und zerbrochene Liebschaften kurierte, und natürlich, dass sie die Zukunft voraussagen konnte, unfehlbar, wie man ihm versicherte. Sie ließ sich von niemandem bestellen, für kein Geld der Welt, sie kam von selber, wenn sie gebraucht wurde, und blieb, bis ihre Arbeit getan war. Diesmal wusste niemand so recht, was sie auf die Insel geführt hatte. Da waren die üblichen Krankheiten, natürlich, und unglücklich Verliebte würde es immer geben. Aber die Hexe – so übersetzte er sich das fremde Wort, das sie für die Frau verwendeten – schien sich auf einen längeren Aufenthalt einzurichten. Sie hatte in einer Hütte am Dorfplatz Quartier bezogen, deren Bewohner sie ihr dankbar und eilig überlassenhatten. Jetzt saß sie den ganzen Tag mit gekreuzten Beinen im Schatten des Eingangs und schien auf etwas zu warten.
    Oder auf jemanden.
    ‹Komm mich besuchen›, hatte sie zu ihm gesagt. Aber das sagte sie wohl zu jedem. Ein Scharlatan braucht immer neue Kunden.
    Er wollte nicht hingehen und ging dann natürlich doch hin. Aus purer Langeweile. Selbst wenn man in der Nacht immer wieder aufschreckte und dann lang wach lag, man konnte doch nicht jeden Tag einfach verdösen.
    Sie zeichnete mit einem Ast Figuren in den Sand und verwischte sie schnell, als er sich näherte. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, sich zu ihr zu setzen. Ungeschickt versuchte er in die Hocke zu gehen und setzte sich dann doch lieber seitwärts auf den Boden.
    ‹Du hast Angst›, sagte sie. Sie sagte es auf Englisch, in dem musikalischen Dialekt, den sie hier auf den Inseln sprachen, und beim Wort ‹fear› rollte sie das R.
    ‹Habe ich das?›, fragte er in dem harmlos scherzenden Ton, den die Leute von der Polizei mit ihm geübt hatten. Solche Plänkeleien wischte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung fort.
    ‹Fear for your life›, sagte sie mit rollenden Rs. ‹Du hättest sie nicht verraten sollen.›
    Die besten Leute hatten mit ihm geübt, und wenn sie nur seinen alten Namen genannt hätte, er würde keine Miene verzogen haben. Aber der Satz war so überraschend gekommen ...
    ‹Ich hatte keine Wahl›, sagte er.
    ‹Mag sein. Aber es sind keine Leute, die so etwas vergessen.›
    Es war geraten, natürlich. Sie hatte sich das ausgerechnet. Ein

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