Zehnundeine Nacht
Zeitungspapier eingewickelt und mitBast verschnürt. Sie streckte es ihm hin. ‹Das wird dir die Angst nehmen›, sagte sie. ‹Weil du dich nicht mehr fragen musst, ob es heute geschieht oder morgen. Wenn du es aufmachst, wirst du die Stunde wissen.›
‹Welche Stunde?›, fragte er.
‹Die Stunde deines Todes.›»
Der König kämpfte strampelnd gegen seine Bettlaken. «Nein», stöhnte er. «Nein, nein, nein, nein.»
Die Prinzessin lächelte im Dunkeln.
«Er wollte das Päckchen nicht nehmen», erzählte sie weiter, «und nahm es schließlich doch. Die Hexe verlangte nichts dafür. Das Geldstück, das er ihr reichen wollte, ließ sie in den Sand fallen. ‹Ich bin schon bezahlt›, sagte sie.
Noch am selben Tag ließ sie sich wieder zum Postschiff hinausrudern.»
«Ich will das nicht», sagte der König und schlug um sich. «Lasst mich los.»
«Es war nur ein Traum», sagte die Prinzessin.
Der König hörte sie nicht. Oder vielleicht dachte er, dass der Satz zu ihrer Geschichte gehörte.
«In dieser Nacht», erzählte die Prinzessin, «schlief der Mann zum ersten Mal wieder ruhig. Er wachte erst auf, als die Sonne hoch am Himmel stand.
Das Päckchen öffnete er nicht. Was konnte es schon enthalten? Ein Amulett vielleicht. Bunter Sand und eine Handvoll Heilkräuter. Ein getrocknetes Seepferdchen. Es kam nicht darauf an, sagte er sich. Denn etwas war ganz bestimmt nicht drin. Das, was sie ihm versprochen hatte. Ein Blatt Papier, auf dem die Stunde seines Todes stand. An solchen Unsinn glaubte er nicht.
Und glaubte doch daran und wurde ein anderer Mensch. Hörte in der Nacht den Altmännervogel schreien und dachte nur: Er bringt mir Glück. Die Katzen, die über sein Dach liefen, fütterte er mit Essensresten. Warum sich ängstigen, wenn doch im Voraus schon feststeht, wie lang man zu leben hat? Wenn man nur ein Stück Bast zerschneiden und eine alte Zeitung zerreißen müsste, um die genaue Stunde zu wissen? Wenn alles schon bestimmt ist, und man nichts daran ändern kann?
Er kaufte sich ein Boot und lernte das Fischen. Fuhr mit den andern aufs Meer hinaus und ließ sich fröhlich auslachen, weil er sich so ungeschickt anstellte. Das Netzeknüpfen lernte er nie. Wenn ihm ein dicker Fisch durch die zerrissenen Maschen entschlüpfte, dann freute er sich darüber. ‹Gut gemacht›, rief er dem Fisch hinterher. Die anderen Fischer, die seine Sprache nicht verstanden, hielten es für einen Fluch.
Am Abend saß er mit ihnen am Strand, genau so, wie er es sich erträumt hatte. Wie es sein musste auf einer Insel mit so vielen Vokalen. Sie zündeten Feuer an, brieten in Palmblätter gewickelte Fische und tranken das kühle Bier aus seinem Eisschrank. Summten alte Lieder und redeten über alles Mögliche. Nur nicht über das eine. Es war nicht mehr wichtig.
Ohne Angst lebte es sich gut. Wenn sie sich doch einmal in ihm regte, dann dachte er an das Päckchen, und schon war sie wieder verschwunden. Er hatte das unscheinbare kleine Bündel in einen Pullover gewickelt und unter die andern Pullover gelegt, die man hier alle nicht brauchte. Sein wertvollster Besitz. Er hätte der Hexe gern etwas ebensoKostbares dafür geschenkt. Aber sie hatte ja nichts annehmen wollen. ‹Ich bin schon bezahlt›, hatte sie gesagt.
Eine gute Tat bezahlt sich selbst, dachte es in seinem Kopf. Er merkte nicht einmal, dass ihm so etwas früher nie eingefallen wäre.
Irgendwann hielt er die einzelnen Tage nicht mehr fest, ließ sie durch die Maschen schlüpfen wie Fische. Manchmal fiel ihm erst am Abend ein, dass ja Montag gewesen war oder Donnerstag, dass das Postschiff gekommen und wieder weggefahren war. Er wartete auf keine Post. Warum sollte er sich zu den alten Männern setzen?
Vielleicht später einmal, dachte er. Wenn er selber alt geworden sein würde. Wenn die Ruder zu schwer für ihn wurden und die Netze zu rauh. Das war möglich, dachte er. Es war möglich, dass er lang genug leben würde, um weiße Haare zu bekommen und fleckige Hände. Das war alles schon bestimmt. Vielleicht ein allmähliches Verlöschen und vielleicht ein plötzlicher Sturm. Ein gekentertes Boot und keine japanische Fischfabrik, die rechtzeitig auftauchte. Es stand alles schon fest. Der Tag und die Stunde.
Er hätte nachschauen können. Das Päckchen öffnen und es wissen. Unterdessen hatte er keinen Zweifel mehr daran. Er war der einzige Mensch auf der Welt, der im Voraus wissen konnte, wann er sterben würde.»
Der König war jetzt doch
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