Zehnundeine Nacht
eingeschlafen. Ein Kind, dachte sie, das man in den Schlaf plaudern muss. Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Sie war so müde.
«Wieso erzählst du nicht weiter?», sagte der König.
«Entschuldige», sagte die Prinzessin.
«Mmm ...», machte der König.
«Ich weiß nicht, wie viel später es war», sagte sie. «Mehr als ein Jahr. Vielleicht mehr als zehn Jahre. Die Zeit war nicht mehr wichtig für ihn. Genauso wenig wie für die andern Menschen auf der Insel. Er hatte ihre Sprache so gut gelernt, dass er sie sogar in seinen Träumen hörte. Er war glücklich.»
Die Prinzessin wischte sich mit der Hand über die Augen.
«Er hätte vollkommen glücklich sein können», sagte sie, «wenn da nicht die Neugier gewesen wäre. Zu wissen, wann man sterben wird. Den Tag und die Stunde zu kennen. Zeit zu haben oder keine Zeit. Pläne zu machen oder keine Pläne mehr. Wenn da stand ‹In zwanzig Jahren›, dann konnte man krank werden, die schlimmste aller Krankheiten, und musste sich deswegen keine Sorgen machen.
Aber vielleicht stand da nicht ‹In zwanzig Jahren› oder ‹In zehn›, vielleicht stand da ‹Morgen› oder ‹Heute›. Davor schreckte er zurück und ließ das Päckchen liegen, all die Jahre lang. Unter den Pullovern, die schon zu schimmeln begannen. Es war feucht auf der Insel, nicht nur in der Regenzeit.
Neugier ist so etwas Ähnliches wie Schimmel. Sie wächst ganz langsam, und wer einmal befallen ist, wird nie mehr ganz frei davon. Und so, eines Tages ...»
«Mmm ...», machte der König, und diesmal klang es wie eine Frage.
«... eines Tages holte er das Päckchen heraus und hielt es lang zwischen den Händen. Das Zeitungspapier war gelb und brüchig geworden. Für den Bastfaden brauchte mannicht einmal eine Schere. Man musste nur einen Finger darunterschieben.
Er ging vor seine Hütte, die er schon lang nicht mehr Haus nannte, und hockte sich auf den Boden. Ganz am Anfang war ihm diese Haltung anstrengend erschienen. Jetzt war sie ganz selbstverständlich. Das Päckchen legte er vor sich in den Sand und fuhr mit der Hand darüber, als ob er es streicheln wolle.
Genau so, fiel ihm ein, hatte die Hexe damals vor ihrer Hütte gehockt. Was wohl aus ihr geworden war? Man hatte sie seit jenem Tag nie mehr auf der Insel gesehen.
‹Ich bin schon bezahlt›, hatte sie gesagt.
Den Zeitpunkt seines Todes zu kennen. Die Versuchung war unwiderstehlich.
Der Bast zerriss fast wie von selber.
Die Zeitung raschelte nicht, als er sie auseinanderfaltete. Dazu war sie zu feucht geworden.
Ein Briefumschlag, an niemanden adressiert.
Mit dem Daumennagel schlitzte er ihn auf und erfuhr den Zeitpunkt seines Todes. Auf die Sekunde genau. Die Sekunde, in der die Briefbombe explodierte.»
Die Geschichte war zu Ende, und die Prinzessin lehnte sich in ihre Kissen zurück.
«Mmm ...», machte der König. Dann hob er den Kopf und sah sie an.
«Wann fängst du endlich an zu erzählen?», fragte er.
Die achte Nacht
«Es war einmal ein Mann», sagte die Prinzessin, «der konnte zaubern.»
«Ich kann auch zaubern», sagte der König. Mit etlicher Mühe stand er im Bett auf und streckte ihr die leeren Hände hin. «Siehst du? Nichts. Und jetzt ...» Er drehte sich schwankend um die eigene Achse, und als er sich ihr wieder zuwandte, hing ihm seine Pyjamahose in den Knien. «Applaus bitte», sagte er. «Die größte Gurke der Welt.»
«Du bist betrunken.»
«Ich habe getrunken», sagte der König voller Würde. «Das ist etwas ganz anderes. Ich habe getrunken, aber ich bin nicht besoffen. Weil ich nämlich den Alkohol vertrage.» Zum Beweis versuchte er auf einem Bein zu stehen. Er fiel hin, und sein Ellbogen traf die Prinzessin ins Gesicht. «Sei nicht so wehleidig», sagte er. «Und erzähl endlich deine Geschichte.»
«Es war einmal ein Mann ...»
«Zwei Flaschen Champagner», sagte der König. «Ich mag keinen Champagner, aber manchmal gehört er einfach dazu. Zwei Flaschen. Von der teuersten Sorte. Entweder man hat Stil, oder man hat keinen.»
«Sehr richtig», sagte die Prinzessin. «Entweder man hat Stil, oder man hat keinen. Zieh dir die Hose wieder rauf.»
«Du bist ganz schön frech», sagte der König. «Sei froh, dass ich so guter Laune bin. Weil ich heute nämlich einen reingelegt habe. Abgekocht nach allen Regeln der Kunst. Über den Tisch gezogen, dass man die Schleifspuren noch lang sehen wird.»
«Gratuliere», sagte die Prinzessin.
«Zwei Flaschen
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