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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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Reisenden.
    Im ersten Flugzeug fiel ihm ein Mann auf, der seine Zeitung nie umblätterte. Vielleicht las er gar nicht, sondern wollte nur sein Gesicht dahinter verstecken. Doch dann begann der Mann zu schnarchen und war tatsächlich eingeschlafen.
    Er musste dreimal umsteigen, jedes Mal auf einem noch kleineren Flughafen. Am Schluss waren da so wenige Reisende, dass jeder, der ihm hätte folgen wollen, bestimmt aufgefallen wäre.
    ‹Da war keiner›, sagte er zu sich selber. ‹Ich hätte das bemerkt.› Trotzdem sah er sich immer wieder um.
    Er kam mit dem Postschiff auf der Insel an. Außer ihm ließ sich niemand ans Ufer rudern. Ein ganzes Komitee schien auf ihn zu warten, lauter alte Männer. In einer langen Reihe hockten sie auf dem Boden. Sie warteten aber nicht auf ihn. Sie warteten auf gar nichts. Er lernte bald, dass sie jeden Montag und jeden Donnerstag dort saßen, immer wenn die Briefe ankamen, von denen nie einer an sie adressiert war.»
    Die Prinzessin gähnte. Sie war müde und durfte doch noch nicht mit Erzählen aufhören. Der König lag reglos da, schlief aber nicht. Er würde noch lang nicht schlafen.
    Sie versuchte, ihre Stimme so eintönig wie möglich zu machen.
    «Er gewöhnte sich an seine neue Heimat», sagte sie, «an den Regen, der manchmal tagelang auf das Wellblechdach trommelte, und an die Insekten, die einen immer noch weiterstachen, wenn man sie schon erschlagen hatte. Er gewöhnte sich daran, jedes Mal die Schuhe auszuschütteln, bevor er hineinschlüpfte, weil sich die Skorpione gern in ihnen verkrochen. Er gewöhnte sich an die fade Konsistenz von Schildkrötenfleisch und an die Kokosnussmilch, die schon bald nicht mehr exotisch schmeckte, sondern nur noch langweilig. Er gewöhnte sich an alles.
    Nur nicht an die Geräusche. Die Brandung, natürlich, die hörte er schon gar nicht mehr, auch nicht das Summen des Generators, der das Dorf mit Strom versorgte. Aber da gab es einen Vogel, der lachte wie ein alter Mann, heiser, hämisch und triumphierend. Auf der Insel sagte man, sein Ruf bringe Glück, aber ihm schnürte es jedes Mal den Hals zu, bis er nach Luft schnappen musste wie ein Ertrinkender. In der Nacht, wenn das Blech nicht mehr von der Sonne glühte, rannte manchmal ein Tier über das Dach, und dann glaubte er Schritte zu hören, und der Schweiß klebte ihm kalt am Körper, ganz egal, was das Thermometer anzeigte. Es genügte, dass ein Hund bellte oder ein Hahn krähte, und schon meinte er, dass sie ihn gefunden hätten, irgendwie, dass er einen Fehler gemacht habe, irgendwo, und dass sie jetzt gekommen seien. Jedes Mal war er sicher, dass er sterben würde.»
    «Mmm ...», machte der König.
    «Am Tag war es weniger schlimm», sagte die Prinzessin.«Sein Haus – es war nur eine Hütte, aber sie hatten ihm ein Haus versprochen, und darum nannte er es auch selber so –, sein Haus stand am Rand des Dorfes, und wenn sich jemand näherte, sah man ihn von weitem kommen. Die Nachbarn schauten manchmal auf ein Schwätzchen vorbei, nicht weil sie sich für ihn interessierten, sondern weil er einen Eisschrank besaß, und das Bier bei ihm kalt war.
    Man hatte ihn akzeptiert auf der Insel. Er war der Fremde und hatte damit seine Rolle gefunden. Wenn am Montag und Donnerstag das Postschiff kam, und die alten Männer am Strand ihr Spalier bildeten, dann boten sie ihm schon mal ein Stück von der bitteren Wurzel an, auf der sie stundenlang herumkauten, und lachten zahnlos, wenn er vergeblich versuchte, den braunen Saft in ebenso hohem Bogen wegzuspucken, wie sie es taten.
    Er hatte sich angewöhnt, bei der Ankunft des Schiffs dabei zu sein, wenn auch aus anderen Gründen als die alten Männer. Für sie war es nichts anderes als das Abreißen eines Kalenderblatts, etwas, mit dem sie ein bisschen Ordnung in ihre leeren Tage brachten. Er dagegen war aus Vorsicht da. Anders als mit dem Schiff kam man nicht auf die Insel, und wenn da jemand Unerwartetes auftauchen sollte, dann wollte er rechtzeitig gewarnt sein.
    Aber es tauchte niemand auf. Bis zu dem Tag ...»
    Ganz plötzlich gab der König ein ersticktes Geräusch von sich. Als ob er sich an seinem eigenen Daumen verschluckt hätte. Er wühlte sich tiefer in seine Decken und atmete wieder ruhig.
    «... bis zu dem Tag», wiederholte die Prinzessin, «an dem eine Frau die Strickleiter hinabkletterte. Sie tat es mitsportlicher Behendigkeit, obwohl sie sehr dick war und obwohl sie trotz der Hitze mehrere Röcke übereinander trug. Die alten

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