Zeichen im Schnee
das sie seit vierhundert Jahren ablehnen?»
«Ist schon irre, Edie.»
«Könnte bald noch irrer werden.» Sie erzählte ihm von Galloways Flucht.
«Wann verbirgt sich einer, der nichts zu verbergen hat?»
«Wenn er weiß, dass er nicht gerecht behandelt wird, wegen seines Glaubens, oder weil jemand was dabei zu gewinnen hat, wenn er ihn in Verruf und ins Gefängnis bringt, oder weil er jemanden sehr Mächtigen geärgert hat oder weil er zu viel weiß. Oder alles zusammen.»
Während der Pause, die folgte, erkannte Derek, wie wahr das war, was Edie gesagt hatte.
«Meinst du, er ist hinter Schofield her?»
«Ich an seiner Stelle wäre hinter ihm her. Zumindest, wenn ich zu unrecht beschuldigt worden wäre.»
Derek hustete wieder. «Edie, du weißt, es kann gut sein, dass wir dieser Sache nie auf den Grund kommen.»
«Ich sehe es lieber so, dass es sehr gut sein kann.» Ihre Müdigkeit war inzwischen verflogen. Sie sah auf die Uhr. 5 Uhr 25 morgens. Sinnlos, zu versuchen, noch ein bisschen zu schlafen.
«Ich bin stolz auf dich, Derek», sagte sie.
«Echt?» Einen Moment lang klang er außerordentlich erfreut.
«Du hättest das Ding im Chukchi-Motel nicht durchziehen müssen.»
Stille.
«Da irrst du dich», sagte er. Seine Stimme klang erschöpft.
«Schlaf erst mal ein bisschen», riet sie ihm.
«Und was hast du jetzt vor?»
Sie wollte die in der Nacht abgebrochene Sache zu Ende bringen, doch um Derek nicht zu beunruhigen, sagte sie: «Ich geh frühstücken.»
***
Sie schlappte die Treppe hinunter, auf die Straße und über das vereiste Pflaster zum Zeitungskasten an der nächsten Ecke. Der frühe Tag schimmerte vor dem Morgengrauen pflaumenblau, es war ruhig, oder doch so ruhig, wie es in der Stadt nur sein konnte. Die Straßenlaternen übergossen die billigen Wohnblocks und schäbigen Läden mit grauem Licht. Aus einer Seitenstraße kam eine Frau, dann noch eine. Sie trugen offenbar Transparente. Edie sah ihnen einen Moment nach, als sie im Dämmerlicht verschwanden, und fragte sich, wohin sie wohl wollten. Dann holte sie sich den
Anchorage Courier
und ging ins Café
Schneeeule
, das gerade seine Türen öffnete.
Stacey kam mit einem Lächeln und der Speisekarte an ihren Tisch.
«Du bist früh dran heute.»
«Sag mal, hast du eben zwei Frauen mit Transparenten in Richtung Innenstadt gehen gesehen?»
«Nee.» Stacey nahm den Gewürzständer vom Nebentisch und stellte ihn vor Edie hin. «Ach», sagte sie, als sei es ihr eben erst eingefallen, «ja, heute soll eine Demonstration vor dem Polizeirevier stattfinden.»
«Was für eine Demonstration?»
Stacey zuckte die Achseln. «Ich nehme an, wegen diesem Kerl, der abgehauen ist. Der die Kinder umgebracht hat. Meine Schwester ist bei den
Bärenmamas
. Das ist so ’n Chatforum für alaskische Mamas. Sie hat mir ’ne E-Mail dazu geschickt, irgend’n Link, ich weiß nicht, ich hatte heute Morgen keine Zeit dafür. Sie sagt, sie sind stocksauer wegen der ganzen Sache.» Sie holte Luft, und das Lächeln kehrte zurück auf ihr Gesicht. «Und, was darf’s heute Morgen sein?»
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24
Die Straße, die zu dem Altgläubigen-Besitz führte, war gesperrt. Ein Uniformierter – Kommunalpolizei, Staatspolizei, Edie hatte keine Ahnung, und es war ihr auch schnurzegal – hielt sie an und fragte, wohin sie wollte. Sie sah sich suchend um, ganz schnell, wie es ein Jäger muss, wenn er sich einer Moschusochsen-Stampede gegenübersieht, dann wies sie mit dem Daumen nach hinten und sagte: «Einen Hund abliefern.»
Der Polizist runzelte die Stirn. Er war jung, wusste mit der Antwort nichts anzufangen.
«Inupiaq-Jagdhund.»
Der Polizist beugte sich zum Fenster hinunter und warf einen Blick auf Holzkopf.
«Vorsicht», sagte Edie, «der kann richtig böse werden.»
Der Polizist lächelte unschlüssig. «Ich darf eigentlich niemanden durchlassen. Das gehört hier alles zum Tatort.» Um nicht unfreundlich zu erscheinen, fügte er hinzu: «Hab noch nie von einem Inupiaq-Jagdhund gehört. Ist das so was wie ein Husky? Er sieht fast genau so aus wie ein Husky.»
Sie gab ein nachsichtiges Lachen von sich. «Der hier ist ein besonderer Hund. Deswegen wollen ihn die Altgläubigen ja haben. Es gibt nichts, was er nicht jagen kann. Vielfraße, Bisamratten, Elche. Er beschafft einem alles, was man will. Er jagt Ihnen ein hübsches Mädchen, falls Sie eins brauchen.»
Der Polizist wurde rot und lächelte.
«Haben Sie Hunde?», fragte sie.
«Ich habe
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