Zeichen im Schnee
gefrorenen Trinkkrug vom Tisch und drehte ihn langsam zwischen den Händen. Die Oberfläche war glatt, der leichte Überzug aus Frost unter ihren Fingern fühlte sich rau und matt an wie Walhaut. Ein Gedankenfetzen blitzte auf, das Muster der Eiskristalle auf Lucas Littlefishs Haut, dort wo sich der bestickte Stoff eingedrückt hatte. Die kleine Gefriertruhe in Schofields Büro fiel ihr ein. Dann dachte sie an Sharon. Sie blinzelte. Chris Taluak sagte gerade irgendwas zu ihr, sein Gesicht war ihrem so nahe, dass sie den warmen Biergeruch in seinem Atem roch.
«Ach, das hatte ich ja ganz vergessen», fiel sie Taluak ins Wort. «Eine Freundin von mir aus Anchorage hat mir was für ihre Freundin Sharon mitgegeben, und ich habe es ihr noch nicht gebracht.»
Taluak wirkte genervt, weil sie ihn unterbrach. Edie bemerkte seinen Blick und versuchte, ein besänftigendes Lächeln zustande zu bringen.
«Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Nachnamen, aber meine Freundin sagte mir, sie wäre Sekretärin. Arbeitet für einen Mann namens Tommy Schofield. Sagt dir das zufällig was?»
Taluak dachte einen Augenblick nach. Dann machte es Klick, und er streckte den rechten Zeigefinger in die Luft. «Das ist wahrscheinlich Sharon Steadman», sagte er. «Hat früher mal als Kosmetikerin gearbeitet, zusammen mit meiner Frau.» Er lachte bitter auf und korrigierte sich. «Exfrau.» Er rammte den Löffel in die Schale mit Rogen, schaufelte ihn voll, steckte sich die Ladung in den Mund und fing an zu kauen. «Kleinstadt. Hier kennt praktisch jeder jeden. Für heute Abend haben sie heftigen Schneefall angesagt, aber wir können ja morgen Früh bei Sharon vorbeischauen. Kein Problem.»
Edie lächelte. «Was du heute kannst besorgen … Außerdem ist Sharon ein Morgenmuffel.»
Sharon Steadman lebte in einem nichtssagenden Gebäude gleich neben dem Museum von Homer. Es war noch nicht mal neun Uhr abends, doch sie öffnete die Tür in einem rosaroten Bademantel und mit rosaroten Puschen an den Füßen. Edie sah an ihr vorbei und stellte fest, dass sich das Thema Rosarot in der Wohnung fortsetzte.
«Hey», sagte Edie nur.
Mit gerunzelter Stirn sah Sharon von Edie zu Derek und dann wieder zu Edie. Langsam dämmerte ihr etwas. Sie griff hastig nach dem Türrahmen und verstellte ihnen den Weg.
«Ich habe Ihnen nichts zu sagen.»
«Ich habe Ihnen auch nichts zu sagen.» Edie zögerte und warf Derek einen Blick zu. «Dafür haben wir beide Ihrem Boss umso mehr zu sagen. Ich nehme an, Sie wissen, dass er in Gefahr ist.»
Sharon sah auf ihre Füße. Sie wurde rot und biss sich auf die Lippe. Als sie wieder aufblickte, sah Edie Tränen in ihren Augen.
«Echt? Er wollte, dass ich Ihnen die Nachricht aufs Band spreche. Ich habe keine Ahnung, was da vor sich geht. Ich habe Mr. Schofield seit drei Tagen nicht mehr gesehen.»
Derek machte einen Schritt nach vorn. Sharon erstarrte. Einen Moment lang wirkte sie verängstigt. Er holte seine Polizeimarke hervor, und sie betrachtete sie prüfend, stellte aber keine Fragen.
«Wir müssen in Schofields Büro. Wir interessieren uns nicht für seine Unterlagen, wir müssen nur einen Blick in das Haus werfen.»
Sharon sah Derek an. «Mr. Schofield hat mir die Nummer einer Sicherheitsfirma gegeben und mich gebeten, einen Wachmann zu engagieren.»
«Glauben Sie, Sie könnten den Wachmann dazu bewegen, uns durchzulassen?»
Sharon sah wieder auf ihre Puschen und nickte dann. Er war gut, dachte Edie, genau die richtige Mischung aus Freundlichkeit und Autorität.
«Wie wär’s, wenn Sie sich etwas anziehen, und wir einfach gleich rüberfahren?»
Sharon biss sich auf die Lippe. Ihre Augen waren groß und feucht. Sie sah so verloren und verängstigt aus, dass sie Edie einen Moment lang tatsächlich leidtat. Dann dachte sie an Lucas Littlefish und Jonny Doe, und das Gefühl verflog.
In den Büroräumen von Schofield gingen flackernd die Neonröhren an. Edie ging in den Gang mit der Gefriertruhe. Sie klappte ihr Werkzeugetui auf und zog den Schraubenzieher heraus. Sekunden später hatte sie das Schloss geöffnet. Sie hob den Deckel, spürte den plötzlichen Sog und den heftigen Stich, mit dem minus zwanzig Grad kalte Luft auf menschliche Haut trifft. Ein Lämpchen ging an und beleuchtete die Eisschicht an den Wänden der Truhe. Edie sah Sharon an. Das Mädchen war völlig ahnungslos: Über diesen Teil von Schofields Machenschaften wusste sie tatsächlich nichts.
Wie erwartet, war die Truhe leer. Sie war
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