Zeig mir den Tod
weitergegangen. Liegen. Kotzen. Liegen. Kotzen. Die Seele hatte sie sich aus dem Leib gewürgt, bis nichts mehr herauskam außer Schleim und Luft und alles, was an Gefühlen in ihr war. Die Schuld, die Sehnsucht und ihr Unvermögen, sich jemandem anzuvertrauen, der ihr hätte helfen können. Nur Marius hatte alles gewusst.
»Ich ertrag das nicht«, las Torben laut. »Weißt du, wie das ist, wenn man ein Leben lang versucht, dem Alten alles recht zu machen, und nur Verachtung erlebt? Ich war ihm nie gut genug. Ich wollte kein Schauspieler werden und erst recht nicht so ein Kotzbrocken wie mein Alter. Manchmal hasse ich ihn. Ich hab so viele Träume gehabt, geliebte Nessy.« Torben schnaufte. »Geliebte Nessy.« Gepresst las er weiter: »Ich möchte so gern Medizin studieren. Das wäre echt was richtig Gutes gewesen. Meine Mutter hätte mir garantiert die Kohle dafür gegeben. Sie ist ganz okay, aber ihr dauerndes Nörgeln und ihre ständige Ausfragerei gehen mir echt auf die Nerven. Sie ist wie eine Qualle, wenn sie was von einem will. Da krieg ich keine Luft mehr. Aber Medizin hätte sie bestimmt gut gefunden. Bloß kann ich das wohl vergessen mit meinen Noten. Ich kann das gar nicht mehr alles aufholen, was ich im Herbst und im Winter versaut habe mit dem Lernen. Aber ich war so fertig wegen Torben und hab Tag und Nacht nur noch daran und an dich gedacht. Ich hab dauernd Kopfweh und Magenschmerzen gehabt. Ich war wie ohnmächtig von all dem Mist. Torben und die Schule und mein gleichgültiger Vater und du … Manchmal hat in meinem Kopf alles geflimmert, und ich musste kotzen, wenn ich morgens am Schulhof gestanden habe und wusste, dass ich jetzt in den Bunker reinmuss. Becci war voll lieb. Sie hat immer gesagt, dass sie auch oft Bauchweh hat und dass das wieder weggeht. Sie wollte mit mir nach Hause gehen, das raffinierte kleine Mädchen. Vor allem, wenn sie an dem Tag Mathe hatte. Aber das ist alles vorbei. Jetzt bist du ja da. Ich bin so froh.«
Nessy dachte an die Nacht Anfang Dezember, kurz nachdem er diese Mail geschickt hatte. Sie hatten nebeneinander auf dem schmalen Bett in dem Wohnwagen gelegen, Marius’ Hand warm in ihrer. Er hatte erzählt, dass er Arzt werden wollte. Diabetologe. Sie hatte zuerst nicht verstanden, warum. Das war doch total langweilig. Da hatte er das mit der Zuckermaus erzählt und dass auch seine Mutter zuckerkrank war. Nessy hatte ein paar Wochen gebraucht, um die Bedeutung all dessen zu verstehen. Marius war echt fit gewesen, fast schon ein Experte auf dem Gebiet. Er hatte ihr alles bis ins Detail erklärt. Basal- und Bolusraten, Hypo- und Hyperglygämie. Nessy hatte erfahren, dass Diabeteskinder mit Insulinpumpe alles essen durften, worauf sie Lust haben, wenn sie nur den Blutzuckerwert prüften, die Menge der aufgenommenen Kohlehydrate in die Pumpe eintippten und die angezeigte Insulinmenge spritzten. Und sie erfuhr, wie man die leckersten Bananen-Rosinen-Cookies buk. In seiner Stimme hatte Nessy das Lächeln gehört, als er das erzählt hatte. Becci wollte Tierärztin werden. »Meine Zuckermaus liebt Tiere«, hatte Marius erzählt. »Vor allem Vögel, Mäuse, Hamster und Hasen.« Aber sie durften kein Tier zu Hause halten. Die Mutter hatte dauernd Panik, dass sie Dreck in die Insulinpumpe bringen, wenn Becci mit ihnen spielt. So ein Quatsch. Becci war schlau genug und immer vorsichtig. Als sie den Kopf zu Marius gedreht hatte, hatte sie ihn zwar nicht gesehen, aber auf ihrem Gesicht die Wärme gespürt, die von ihm ausging.
Sie hatte Marius von ihrer Mutter erzählt, dem Krebs, und von ihrem Vater, der nie darüber hinweggekommen war. Der seine Tage wie ein lebender Toter auf der Küchenbank verbrachte, Fotos anstarrte und trank. Marius hatte seine Hand sachte zurückgezogen, ihr Gesicht zwischen seine Hände genommen und ihre Tränen weggeküsst.
Nessy hatte Marius’ Hände immer gemocht, seine Haut, sein sanftes Wesen und seine Zärtlichkeit. Manchmal, in ihren wenigen gemeinsamen Stunden, hatte sie das Gefühl gehabt, ihn zu bestehlen, weil sie nicht wusste, wie sie einen solchen Jungen verdient hatte. Er drohte ihr nicht bei jedem Wort, das sie sagte. Schlug sie nicht, wenn sie eine andere Meinung als die seine äußerte. All die Dinge, die fast schon normal waren, seit sie sich mit Torben eingelassen hatte. Dann hatte sie geweint, und er hatte es nicht verstanden, bis sie ihm alles erzählte. Von Torbens anfänglicher Einfühlsamkeit, die so schnell in Brutalität
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