Zeig mir den Tod
Aber dass Marius in Drogengeschichten oder Prügeleien verwickelt gewesen sein soll … Nein, wirklich nicht.«
»Wie kommen Sie darauf, dass wir das annehmen?« Sie krauste die Nase, wahrscheinlich würde sie gleich wieder niesen.
»Jessica Mende. Patrick Lanz. Niklas Schmidt. Sie erinnern sich? Sie kommen immer dann zu uns, Frau Schneider, wenn es um Alkohol und Crack geht. Wenn etwas gestohlen oder einer zusammengeschlagen wurde.«
Elisabeth Heinemann senkte den Blick auf den Tisch, und Ehrlinspiel war froh, dass er nur selten mit Jugendkriminalität konfrontiert war. Die Aussichtslosigkeit, mit der seine Kollegen für frustrierte und oft überforderte Kinder und Jugendliche kämpften, die Langeweile, aus der heraus schon Elf- und Zwölfjährige klauten und prügelten, und die Gleichgültigkeit vieler Eltern desillusionierten ihn zunehmend.
Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob die Gesellschaft sich seit seiner eigenen Schulzeit so sehr verändert hatte. Sein Abitur lag genauso lange zurück wie Annikas Verschwinden: bald zwanzig Jahre. Natürlich hatte auch er sich mit anderen in die Wolle bekommen. Kiffte, fand es cool, auf Klassenfahrten Bier ins Zimmer zu schmuggeln und mit Mädchen zu knutschen. Jobbte am Fließband und wurde mit Tschernobyl politisch, und statt auf Klamotten und Kneipenbesuche zu schauen, hatte er mit Freunden diskutiert und demonstriert und die Nacht zum Tag gemacht.
Gestylt in die Schule kommen, Smartphone und iPad dabei, Komasaufen, Waffen, Cybermobbing … All die Dinge, für die die Polizei mittlerweile extra Kräfte ausbildete, hatte es nicht gegeben. Allerdings waren derlei Dinge in Metropolen wie Hamburg, Berlin, Köln, Essen oder Frankfurt um einiges mehr verbreitet als in Freiburg.
»Erzählen Sie uns etwas über die Kinder«, bat Josianne den Direktor und kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Charakter. Freunde. Leistungen.«
»Sie gehen bitte zum Arzt, junge Frau.« Er klang streng, als habe er ein kleines Kind vor sich. »Marius ist ein sanfter junger Mann. Ich unterrichte ihn in Deutsch und Politik. Meine Kollegin« – er legte seine dicke Hand auf Elisabeth Heinemanns Schulter – »kann Ihnen das bestätigen. Sie wird Ihnen nachher etwas zu Rebecca sagen, nicht wahr, Lisa?«
»Natürlich, Hanno.« Die Mathematiklehrerin rückte von dem Direktor ab, und er ließ die Hand sinken.
»Marius’ Leistungen sind leider nicht zufriedenstellend. Er war sonst immer ganz gut. Keine Leuchte, aber vor zwei Jahren hat er sich richtig ins Zeug gelegt. Ich glaube, er hatte echt ein Ziel. Aber seit diesem Schuljahr sind seine Zensuren wirklich schlecht. Ausgerechnet in den Kernkompetenzfächern hat er kaum noch mitgearbeitet und fast überall zwischen drei und fünf Punkte bekommen.« Er sah Ehrlinspiel unter seinen Hängelidern hervor an. »Das ist nicht gut. Gar nicht gut.«
»Also haben Sie doch Probleme mit dem Jungen.«
Der Direktor hob kurz die Hände. »Nicht auf die Art, bei der wir mit dem Einschreiten der Polizei gerechnet hätten.«
»Ist Marius’ Abitur gefährdet?«
»Wenn er sich nicht am Riemen reißt, ja.«
»Wissen die Eltern das?«
»Ich habe mit der Mutter telefoniert. Aber das war schon Anfang Februar. Als klar war, dass Marius zu den Prüfungen immerhin zugelassen wird.«
Der Hauptkommissar rieb sich über die Nasenwurzel. »Haben die Eltern mit ihrem Sohn geredet? Vielleicht eine Strafe angedroht, so dass Marius weggelaufen ist? Samt der Schwester?«
Elisabeth Heinemann stieß hörbar Luft durch die Nase aus.
»Tut mir leid, das weiß ich nicht.«
»Haben Sie eine Erklärung für seine Leistungsverschlechterung?«
»Nein. Die Eltern auch nicht. Allerdings überfordert das Kurssystem manche Schüler. Nicht nur fachlich, auch emotional. Es gibt keine Klassenverbände mehr wie zu unserer Zeit. In jedem Kurs muss man sich auf andere Mitschüler einlassen. Das ist schwer, wenn man sowieso kontaktscheu ist.«
»Und Marius ist kontaktscheu?«, fragte Josianne.
»Sehr.«
»Hat er Freunde hier?« Ehrlinspiel dachte an die Liste, auf der nur Kontakte von Rebecca standen.
»Er sitzt oft neben Konstantin. Aber Freunde? Nein. Nach dem Unterricht geht er meines Wissens immer gleich nach Hause. Oder wohin auch immer. Die Schüler haben ja auch viel zu tun. Das G 8 fordert einiges. Aber unsere Jugend ist leistungsorientiert heutzutage. Sehen Sie sich mal den Numerus clausus an den Unis an. Das ist kein Zuckerschlecken. Die meisten sind nicht so
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