Zeig mir den Tod
Kopfhörer von den Ohren und sprang auf. Er wusste nichts über seinen Sohn. Nichts.
Er suchte weiter nach dem Laptop, sogar unter den Papieren auf dem Schreibtisch sah er nach. Ohne Erfolg. Nach ein paar Minuten ging er zurück nach unten.
»Wir werden eine Beschreibung Ihrer Kinder veröffentlichen. Mit Fotos.«
Abrupt blieb Günther stehen. »Für die Bilder brauchen Sie unser Einverständnis!« Das war bei Annika so gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein?
»In diesem Fall nicht, Herr Assmann. Rebecca ist schwerkrank. Das Wohl des Kindes hat oberste Priorität! Wenn Sie nicht zustimmen, schalten wir das Jugendamt ein und bestellen einen Pfleger, der die Interessen Ihrer Kinder –«
»Veröffentlichen Sie sie!« Lene erhob sich.
»Aber Lene, ich, wir … Wir waren uns doch einig, dass … Hast du denn schon vergessen, wie damals …«
»Damals ist mir egal!« Ihre Stimme klang jetzt fest und hoch. »Ich möchte meine Kinder wiederhaben. Und das solltest du auch wollen! Wo ist der Laptop?«
»Die Leute werden mit dem Finger auf uns zeigen.« Sein Mund wurde trocken, das Gesicht war feucht. »Weißt du nicht mehr? In der Fußgängerzone, auf dem Markt, überall, wie sie sich nach uns umgedreht und getuschelt haben? Wir konnten sie doch förmlich hören. ›Annika, Annika‹, und ›Das sind doch die Eltern von der Kleinen, die in der Zeitung war, wer weiß, was da dahintersteckt‹. Wie oft haben wir das erlebt? Hm? Wie oft?«
»Hör auf«, schrie Lene.
Die Polizisten sahen sich an.
»Von mir erhalten Sie die Erlaubnis nicht! Und der Rechner ist nicht in seinem Zimmer. Gute Nacht.« Günther hastete aus dem Wohnzimmer, und schon, als er sein Arbeitszimmer im hinteren Gebäudeteil betrat, spürte er den Druck hinter den Augen. Er nahm das Fotoalbum aus der Schreibtischschublade. Zwei kleine Flecke breiteten sich dunkel auf dem gelben Einband aus. Verfluchte Tränen! Er schlug das Album auf und betrachtete seine Tochter. Hörte ihr Lachen, roch ihr duftendes, goldenes Haar. Sah ihre Sommersprossen. Den Engelsstaub. Dann legte er den Finger auf ihre Wange, die von all den Berührungen schon ganz verblasst war. Annika war ihm nah wie an dem warmen Maiabend 1993 . Marius und Rebecca schienen ihm unendlich weit entfernt.
[home]
6
Freitag, 22 . März, 6 Uhr 5
D as Hoch Erich versorgt Deutschlands Südwesten noch bis heute Nacht mit klirrender Kälte, ab Samstag erwarten uns frühlingshafte Temperaturen und Sonne. Die weiteren Aussichten am Oberrhein …«
»… sind heiter bis rosa«, murmelte Ehrlinspiel und schichtete die Fahrradtrikots und -hosen neben seine Marken-Jeans. Daneben stapelten sich, farblich sortiert, Polohemden in Blau-, Grau- und Rottönen, Shirts mit Aufdruck und Pullover. »Ich werde zum Spießer, und das mit Ende neununddreißig«, sagte er zu Bentley, der sofort in das leere Fach des Kleiderschranks sprang, umherschnüffelte und sich dann schnurrend in der hinteren Ecke einrollte. »Wird Zeit für eine Frau, die unser Leben aufmischt.« Der Hauptkommissar schaltete den Radiowecker aus. Noch war nichts von den verschwundenen Kindern in die Nachrichten gelangt. Er strich dem Kater liebevoll über das Fell. »Komm, Frühstück, mein Racker.«
Barfuß und in Boxershorts ging Moritz in die Küche. Dort thronte Bugatti auf dem Fenstersims, den beigefarbenen Kopf mit der schokoladenbraunen Nase und ebensolchen Ohren dem dunklen Himmel zugewandt. Es war kurz nach sechs, und seit einer Stunde räumte er um. Wie er bis morgen damit fertig werden sollte, war ihm ein Rätsel.
Seine beiden Siamkater waren Brüder, und der Kommissar machte sich jedes Jahr mehr Gedanken über ihre Gesundheit. Fast sechzehn Jahre waren sie alt, echte Senioren. Bentley fraß seit einigen Wochen deutlich weniger, erbrach oft, sein Fell war stumpf geworden, und er zog sich häufig zurück. Ehrlinspiel bezweifelte, dass er den Kleiderschrank in den nächsten Stunden freiwillig verlassen würde, nicht einmal zum Fressen.
Tierarzt anrufen,
schrieb er auf den Notizblock am Kühlschrank.
Dann nahm er das vorgekochte Hühnchen aus der Frischhaltebox, mischte Haferflocken und zwei Messerspitzen Taurinpulver darunter und füllte zwei Näpfe damit. Manchmal waren die Racker fast wie Kinder für ihn. Der Gedanke, dass einer oder gar beide nicht mehr wären, stimmte ihn traurig. Er hob Bugatti vom Fensterbrett und setzte ihn auf den Boden. Schmatzend begann er zu fressen.
Er mochte sich nicht vorstellen, wie groß der
Weitere Kostenlose Bücher