Zeig mir den Tod
voyeuristische Meute! Einzig Edith hatte ehrlich zu ihm gehalten. Sie wusste um seine Liebe zu seinem Engel und zu Lene.
Manchmal hatte er geglaubt, auch Edith würde sich von ihm abwenden. Wenn sie geweint und sprachlos in der Garderobe gestanden und ihn einfach nur angesehen hatte, während er vor Schmerz und Sehnsucht nach Annikas Lachen und Kinderduft überzeugt war, sterben zu müssen.
Das durfte nicht wieder passieren. Nie wieder dieser Schmerz. Nie wieder diese Angst, dass Edith sich von ihm abwenden könnte. Er brauchte sie. Ihre Kontakte.
»Wir werden sie verlieren«, sagte Lene.
»Den Teufel werden wir!« Mit einem Ruck schob er den Stuhl zurück, der laut über den Boden schrammte, und erhob sich. Zorn kämpfte gegen Trauer, Angst gegen Tatendrang, Liebe gegen Resignation. Er brauchte Bewegung. Musste hier raus. Mit jedem Blick zu Krenz kam Annika wieder näher. Die verlorene Annika. Sein Engel. Er ging zu Lene, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, hob ihn leicht an und sagte: »Sie war wie du. So zart, so zerbrechlich.«
Sie drehte den Kopf weg, entzog sich ihm, und ihre Stimme war nur noch ein ersticktes Hauchen: »Becci ist auch wie ich. Aber du läufst nur weg. Du läufst immer weg. Statt dass du dich
ein Mal
der Wahrheit stellst.«
Der Zorn gewann den Kampf.
»Der Wahrheit? Welcher Wahrheit denn? Dass uns hier jemand fertigmachen will? Dass die Polizei wieder nur untätig herumsitzt?«
»Du weißt genau, was ich meine.« Sie stand auf, trat ans Fenster, und im Gegenlicht der Sonne zerfloss ihre Silhouette in ein flimmerndes Gold.
Sie ist ein Geist, wie neulich nachts, dachte Günther. Aber jetzt kein guter mehr. Kein trauriger, keiner, der Rettung sucht.
»Sie werden sterben«, sagte sie.
Sie ist ein Geist, vor dem ich selbst Erlösung brauche, dachte er. Einer, der zu groß ist für mich. »Hör auf mit diesem Kassandra-Getue!« Er war froh, dass seine Stimme fest klang. Er musste durchhalten. Musste spielen. Musste … leben.
»Dann wirst du tun, was sie verlangen. Du wirst auf die Nachrichten antworten.« Sie griff nach Günthers Handy. »Ich halte das Leben unserer Kinder hier in der Hand. Und wenn du Schande auf dich geladen hast, dann steh dazu.«
»Schande«, stieß er hervor. »Da will jemand meine Karriere ruinieren.«
»Deine Karriere.« Unter ihre Stimme mischte sich dieses leise Zittern des schreienden Vorwurfs, das wahrscheinlich nur er hörte, und für eine Sekunde schloss er die Augen und flehte stumm
Sei still, Lene, sei einfach nur still.
»Bitte, setzen Sie sich.« Jo Krenz war aufgestanden und berührte Lene an der Schulter. Sie ließ den Kopf sinken, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie sahen aus wie ein Vater und seine Tochter in der modernen Inszenierung eines antiken Dramas.
Günther nahm Platz und goss sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein. Sein Mund war trocken, doch er trank nicht.
»Wie kommen Sie darauf, dass jemand Ihre Karriere ruinieren möchte?«
Er hob die Schultern. »Was sonst soll es heißen, dass ich morgen auf die Bühne gehen und irgendeinen Scheiß erzählen soll? Ich bin Faust!
Faust!
Kein Buhmann!«
»Hat jemand Sie bedroht, Andeutungen gemacht? Kollegen vielleicht?« Krenz strich Lene Assmann kurz über den Rücken.
Günther schüttelte den Kopf. »Und ich werde den Goethe spielen. Faust. Sonst nichts.«
»Herr Assmann, ich bin mit Ihrer Frau einer Meinung. Ihre Karriere sollte –«
»Ja, das sehe ich!«
Krenz führte Lene an ihren Platz zurück. »Ihre Karriere sollte im Moment zweitrangig sein. Warum auch immer jemand Ihre Kinder in seiner Gewalt hat: Oberste Priorität hat Marius’ und Rebeccas Rettung. Und Sie« – er deutete mit dem Finger auf Assmanns Brust – »sollten uns, verdammt noch mal, dabei helfen.«
Günther umfasste das glatte, kühle Glas.
»Hören Sie mir zu?«
»Ja.« Er blickte in die durchsichtige Flüssigkeit, die winzigen Tropfen, die im einfallenden Licht glitzerten und dann zerplatzten, einer nach dem anderen, fast unhörbar, und in seinem Kopf doch laut wie Schüsse.
Lene schob das Handy zu ihm hin. »Ich habe immer zu dir gehalten, Günther. Ich habe deine Marotten ertragen und deine Alkoholexzesse, wenn du wieder mal eine Rolle nicht bekommen hast. Ich habe mit dir gehofft, dich aufgefangen, dich unterstützt. Es ist Zeit, dass du
mich
unterstützt. Ich will meine Kinder wiederhaben. Und wenn du nicht kooperierst, dann –«
»Dann?« Er verzog den Mund, dass es weh tat, und sah zu
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