Zeig mir den Tod
niemanden.«
»Okay.« Jo klang gelassen, aber Ehrlinspiel wusste, dass er mindestens genauso angespannt war wie er selbst. »Würden Sie jemanden in Ihrer Umgebung als Fremdling bezeichnen?«
»Fremdling, Fremdling!« Rhythmische Stöße klangen dumpf aus dem Mikro, und Ehrlinspiel glaubte, dass Assmann wieder hin und her ging. »Für mich sind viele Fremdlinge.«
»Marius.« Das war Lene Assmanns Stimme. Klar und fest.
Ehrlinspiel beugte sich ganz nah an das Mikrofon. »Ihr Sohn ist ein Fremdling für Sie«, sagte er langsam und überdeutlich und dachte an Lene Assmanns Vorwürfe, er sei nie zu Hause, und an Assmanns Erwartungen, die der Junge nicht erfüllte.
»Nein!« Pause. »Ja, manchmal.«
»Lies die Nachricht noch einmal vor, Jo!«
»Wer lässt es nicht, sein stetes Schrei’n? Wer zeugt’ die Lüge, die erst klein, dann groß und größer wurd’, zur Last, zum Fremdling, den –«
»Stopp! Wer zeugte die Lüge? Die Lüge, die wuchs und zum Fremdling wurde? Zum Fremdling Marius?«
»Wer zeugte ihn wohl! Ich war das Schwein!«, stieß Assmann hervor.
»Aber warum Lüge? Wieso soll Marius eine Lüge sein?« Die Leuchtziffern sprangen weiter.
16
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15
:
00
.
Noch zwei Minuten. Danach wäre das Handy des Entführers, Rebeccas Handy, wieder ausgeschaltet. Vielleicht für immer. Und dann? »Schreiben Sie zurück«, befahl Ehrlinspiel. »Wir müssen Zeit gewinnen. Schreiben Sie: Der Fremdling ist Marius.«
»Mach es«, sagte Lene Assmann im Hintergrund. »Bitte!«
Kurze Stille. Dann Jos Stimme: »Antwort ist raus.«
Fast im selben Moment piepse es wieder. »Die Antwort lautet«, sagte Jo, »richtig, aber Frage nicht beantwortet.«
»Verdammt!« Ehrlinspiel schlug mit dem Handballen auf das Lenkrad.
»Ich habe ihn gezeugt«, sagte Assmann so langsam, dass Ehrlinspiel wusste, er tippte seine Worte als Nachricht.
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16
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23
.
Weniger als eine Minute.
Piepsen. »Falsch«, las Assmann laut vor. »Aha.« Plötzlich lachte er schrill. Lachte und lachte, bis Jo Krenz »Assmann« brüllte und der Schauspieler verstummte. »Wenn Sie Marius nicht gezeugt haben, wer dann? Wer zeugt’ die Lüge? Wer?«
»Sie sind verrückt. Alle verrückt!«, rief Assmann. Und dann, leiser: »Es sei denn …«
»Was ist los?« Vor Ehrlinspiel lag der dunkle Tunnel, ein paar Notleuchten schimmerten gelblich fahl an den Seitenwänden. Er glaubte, in der Betonröhre festzustecken, in die er vor zehn Minuten auf der Rückfahrt von Assmanns Mutter hineingefahren war. Er wollte zu Hause vorbeischauen, wollte Hanna, die nun allein den gesamten Umzug managen musste, wenigstens für ein paar Minuten in die Arme schließen. Wollte ihr erklären, was in den letzten Stunden geschehen war. Wollte Bentley mit vertrauter Stimme zureden. Den Tierarzt anrufen.
»Du hast mich betrogen, Lene«, presste Assmann leise hervor.
Ein Lkw donnerte vorbei, die Rücklichter tauchten die Motorhaube seines silbernen Dienstwagens kurz in ein grelles Rot, wurden kleiner, verschwanden schließlich als winzige leuchtende Punkte im Finstern.
Noch zwanzig Sekunden.
»Mit wem?« Jetzt schrie Assmann.
»Ich
dich
betrogen?«, sagte Lene. »Glaub mir, wenn ich einen Namen wüsste, den ich diesem … diesem Schwein schicken könnte, ich würde es tun!«
16
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16
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50
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Noch zehn Sekunden.
Piepsen.
»Geben Sie mir Ihr Handy.« Jo klang souverän. »Moritz, er schreibt: Such in den Feldern, Wiesen und Wäldern! Geh raus und singe, tanze, springe, Frühling bricht nun aus. Morgen gibt’s Applaus!«
16
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17
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00
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Ende. Die Frist war vorbei.
»Das ist aus einem Kinderlied gebastelt!«, sagte Lene. »Ich habe es Becci manchmal vorgesungen. Kuckuck, Kuckuck, ruft aus dem Wald. Lasset uns singen, tanzen und springen. Frühling, Frühling wird es nun bald. Das passt auch zum Anfang. Das Schreien.«
»Kuckuck, Kuckuck lässt nicht sein Schrei’n«, fuhr Jo fort. »Komm in die Felder, Wiesen und Wälder. Frühling, Frühling, stelle dich ein. Ich habe auch Kinder.«
»Kuckuck.« Assmann spuckte das Wort aus wie eine Wespe, die einem in den Mund geraten war. »Was soll das heißen?«
Ehrlinspiel lehnte seinen Kopf gegen die Nackenstütze. An dem gräulichen Plastikhimmel über ihm waberten scheinbar Tausende grauer Pünktchen, fast wurde ihm schwindelig. Kuckuck. Marius.
Wer zeugt’ die Lüge,
den Fremdling, Marius – Assmanns Kind. War Marius ein Kuckuckskind? Und wenn ja: Wusste Assmann davon? Ehrlinspiels Gedanken gingen in das Altenheim nach Kirchzarten
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