Zeig mir den Tod
den Kaugummi von links nach rechts. »Weiß nicht mehr.«
Ehrlinspiel brachte sein Gesicht näher an ihres und lächelte. Torben hat in zwanzig Jahren sicher auch diese Fältchen um die Augen, schoss es ihr durch den Kopf. Bloß würden sie bei ihm nicht vom Lachen kommen.
»Doch, das wissen Sie!«
Rasch blickte sie auf den Steinboden. Fußabdrücke, helle Schlieren und Steinchen zogen sich von der Glastür durch die Halle und über die Treppen. War ja klar, dass ihr Handy Spuren hinterlassen hatte und die Polizei das herausfinden musste, wenn sie nach den Assmanns suchten. Egal, was war schon dabei. Gedämpft hörte sie das harte Aufschlagen von Bällen, dann Rufe und Schritte. »Ich hab ihn gefragt, ob ich ihm die Hausaufgaben bringen soll. Zum Abschreiben. Weil er doch Ärger hatte.«
»Tatsächlich? Einen so besorgten Eindruck haben Sie gestern aber nicht gemacht.«
»Muss ja nicht jeder wissen.« Fest biss sie auf den Kaugummi.
»Dann sind Sie also doch mit ihm befreundet?«
»Er tut mir leid. Sonst nichts.«
»Was hat Marius denn geantwortet?«
»Er hatte keine Lust zum Abschreiben und hat aufgelegt. Er ist komisch. Sagten wir doch schon.«
»Weitere Themen?«
»Was?«
»Über was haben Sie noch geredet?«
»Nichts.«
»Dann haben Sie sich also knapp« – er sah in ein kleines braunes Notizbuch – »achtzehn Minuten lang angeschwiegen?«
Nessy schluckte.
»Er war bei Breisach, als Sie mit ihm gesprochen haben«, sagte der Kleine und verschränkte die Arme. Sein schwarzer Anzug glänzte.
Nessy hasste Anzüge. Arrogant. Protzig. »Breisach?« Ein Kribbeln in den Fingerspitzen setzte ein. »Davon hat er nichts gesagt.«
Ein Kumpel aus Torbens Sportkurs spurtete die Treppe herauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hob die Hand und verschwand nach draußen.
»Sie haben auch am Montagabend bei ihm angerufen. Da war er in der Stadt.«
Sie nickte. Was sonst sollte sie tun?
»Wollten Sie ihm da auch die Hausaufgaben bringen?« Freitag kam einen Schritt auf sie zu. Er war höchstens fünf Zentimeter größer als sie selbst. Vermutlich sollte der Anzug mangelndes Selbstbewusstsein kompensieren. Erneut nickte sie. Zwei weitere Jungs kamen die Treppe herauf, liefen zum Schulausgang. »Ciao.« Sie winkte ihnen hinterher.
»Frau Sigismund, wenn Marius Ihnen etwas anvertraut hat, das uns hilft, dann sagen Sie es, okay? Es geht auch um seine kleine Schwester.«
Die Augen des kleinen Bullen nagelten sie fast am Schwarzen Brett fest. Da erschien Torben im Treppenaufgang. Als er die Polizisten sah, erstarb sein Lächeln.
»Es geht um
zwei
Menschenleben!«, sagte Ehrlinspiel, als Torben sich zu ihnen gesellte und die Adidas-Tasche auf den Boden fallen ließ.
»Hallo, die Herren. Herr Kommissar Ehrlinspiel und …?« Torben reichte ihnen die Hand. Dann küsste er Nessy auf den Mund. »Hey, Puppe.« Mit gesenkter Stimme fuhr er fort: »Ist etwas mit Marius? Ist er wieder aufgetaucht? Oder …?«
»
Haupt
kommissar, Herr Tretter!«, präzisierte Ehrlinspiel. »Was für ein willkommener Zufall, Sie zu treffen! Mein Kollege, Kommissar Freitag. Und ja, es ist etwas mit Marius.« Er zog ein Blatt aus seiner Umhängetasche und pinnte es an das Schwarze Brett. »Marius und Rebecca Assmann befinden sich in der Gewalt von Entführern.«
Nessy starrte auf das Blatt.
Entführt. Fahndung. Lebenswichtige Medikamente.
»Aber warum? Wann? Von wem? Sind Sie sicher?« Ihr wurde heiß, dann kalt und wieder heiß, als sie die Bilder der Geschwister ansah. Schließlich wandte sie den Blick von ihnen ab, sah zu Freitag, zu Ehrlinspiel, schließlich zu Torben. Dessen Kiefermuskeln waren angespannt.
»Nun ja, war fast zu erwarten, oder?«, sagte er, und Nessy wünschte sich, ihr Freund hätte sich beim Handball irgendetwas gebrochen oder sich die Zähne ausgeschlagen, dann würde er jetzt nicht so einen verdammten Mist reden.
»War es das?« Ehrlinspiel fixierte Torben.
»Bedenken Sie den Status der Familie. Da ist durchaus etwas zu holen.«
»Was hatten Sie mit Marius zu besprechen?«
»Haben Sie mir gestern nicht zugehört? Marius steht in den Pausen einfach neben mir, ich weiß nicht, weshalb er –«
Ehrlinspiels kräftige Hand schloss sich um Torbens Oberarm. »Erstens: Nicht frech werden, junger Mann. Und zweitens: Sie haben ihn angerufen. Sie und – als Letzte – Ihre Freundin.«
Nessy schluckte, als Torben erst sie ansah und sein linker Mundwinkel dabei fast unmerklich, doch so vertraut zuckte, und als er
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