Zeig mir den Tod
ihrem Haus.
Als sie auf den Radweg kam, der auf den Wald zuführte, wurde ihr Herzschlag ruhiger. Jetzt gab es nur noch eines zu tun. Sie würde das schaffen. Alles andere war die Sache nicht wert.
Sie fuhr ein paar Meter am Waldrand entlang und bog dann ab, zwischen die Bäume. Der Scheinwerfer glitt über die Tannenstämme. Ein Vogel schrie so grell, dass er das Knattern des Motors übertönte. Oder bildete sie sich das alles nur ein?
Am Ende des Waldes, an der Kreuzung, sah sie ihn. Bremste. Drehte den Zündschlüssel herum, das Mofa erstarb. Sie stellte die Füße auf den Boden, schob das Visier des Helms hoch.
Er ging weiter, überflutet vom weißen Mondlicht, stürzte beinahe vorwärts, direkt von der Wiese auf sie zu. Sie winkte spontan, und er hob beide Arme. Sie wollte rufen, doch dann packte sie die Angst. Irgendetwas stimmte nicht, und sie blieb einfach stehen.
Sekunden später sprang sie von dem Mofa herab und riss die Arme hoch. Das Mofa kippte auf den Waldweg, doch den dumpfen Aufprall hörte sie schon nicht mehr. Ihr Schrei übertönte ihn.
[home]
20
E rschöpft sank sie auf den Barhocker an der Theke, die Wohn- und Essbereich trennte. Ihr pinkfarbenes Langarm-Shirt war frisch, aber natürlich hatte sie gleich einen Fleck darauf gemacht. Und das quasi umsonst: Der Rotwein, den sie sich zum Abend eingeschenkt hatte, half nicht gegen das dumpfe Gefühl, das sich in ihrem Magen ausbreitete.
Natürlich hatte sie gewusst, auf was sie sich einließ. Dass sie viele Stunden allein bleiben und dass Moritz’ Wochenenden und Abende oft mit Arbeit ausgefüllt sein würden. Eigentlich eine Situation, die ihrer Freiheitsliebe entgegenkam. Doch dass sie ihn am Tag ihrer Ankunft – und wie es aussah, auch in der ersten Nacht – nicht einmal sehen würde, damit hatte sie nicht gerechnet.
Hanna stellte das Glas vor sich und blickte zum hundertsten Mal im Wohnzimmer umher. Kistenberge türmten sich in der Mitte, die Deckenleuchte aus Milchglas warf ein warmes Licht darüber. Vor der Tür zur Dachterrasse stapelten sich die Bretter ihres riesigen Bücherregals. Ganz oben lag ihr Saxophonkasten. Und an ihn geschmiegt, lang ausgestreckt, schlief einer der beiden Kater. Sie wusste nicht, ob es Bentley oder Bugatti war, weil die Zwillingsbrüder für sie genau gleich aussahen: beiger Körper, Ohren, Nase und Füße dunkelbraun, blaue Augen. Außerdem hörten beide auf beide Namen – bei Moritz zumindest. Bei ihr reagierte natürlich keines der Viecher.
Sie trank, schmeckte die leichte Holznote des schweren Weines.
Hätte ihr vor ein paar Monaten jemand gesagt, dass sie ihre Bleibe einmal mit zwei Fellmonstern teilen würde, hätte sie demjenigen einen Orden für den besten Kalauer des Jahres verliehen.
Hanna stand auf und ging zu dem Kater. Sofort schoss der Schmerz von ihrem Becken bis zur Wirbelsäule, wo er sich zu konzentrieren schien. »Shit!« Langsam ging sie in die Hocke.
Er hob den Kopf.
»Hey!« Sie streckte die Hand aus. »Wo steckt eigentlich dein Bruder?«
Die feuchte Nase des Katers glitt an ihren Fingerspitzen entlang. Seine Schnurrbarthaare zitterten.
Vorsichtig strich sie über seinen Kopf, doch er legte die Ohren an, und sein Schwanz peitschte hin und her.
»Fall mich ja nicht an! Du kennst mich doch inzwischen!« Sie zog die Hand zurück und stand auf. Kratzer hatte sie weitaus genug. Verdammte Umzieherei.
Sie trat vor Ehrlinspiels schmales Bücherregal. Lächelte. Zu den paar Fachbüchern über Fotografie, Irland-Bildbänden, zahlreichen Radwanderkarten aus der Gegend bis ins Elsass und die Schweiz, hatten sich seit ihrem letzten Besuch tatsächlich einige Romane und sogar ein Gedichtband gesellt. Paul Auster, Ian McEwan und Martin Suter waren darunter, die Hanna so liebte, auch von Maarten ’t Hart fand sie einen Band. Fehlen noch ein paar Schriftstellerinnen, dachte sie mit einem zufriedenen Blick auf ihre eigenen beiden Schwarzwald-Wanderführer.
Sobald sie sich hier eingerichtet hatte, würde sie mit den Recherchen zum dritten Band beginnen. Außerdem war sie als freie Autorin für ein Stadtmagazin engagiert worden, nachdem ihre Obdachlosen-Porträts in der Badischen Tageszeitung für Aufsehen gesorgt hatten. Einfühlsam, genau recherchiert, dabei witzig und dennoch kritisch sei ihre Arbeit, so attestierten ihr Kollegen und Leser. Und dass sie auf Augenhöhe mit den Schwächeren der Gesellschaft umgehen konnte. Vielleicht verband sie gerade das mit Moritz. Selbst wenn sie
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