Zeilen und Tage
erkennt er im Judentum den Umriß von etwas, das sich in sein Curriculum einfügen ließe. Wie bei der griechischen und der deutschen Metaphysik ist sein Verhältnis zur »Tradition« die des Spätankömmlings, der sich durch eigenes Anknüpfen am Früheren, das ihn anfangs nichts anging, einen Platz in den Annalen sichert.
Das 19. und 20. Jahrhundert haben gezeigt: Es gibt nicht nur den einen ewigen Eskapismus, der sich in das zeitlose Sein retten möchte – nenne es Gott, Nichts, Wesenswelt, oder wie immer man die Adressen der Flucht aus der Zeit bezeichnen wollte. Es gibt auch einen zweiten, den modernen Eskapismus, die Flucht in die Zeit, in die Geschichte, in das Werden, ins Event, in die Kreation. Wenn auch niemand weiß, was »der Mensch« ist, so ist er jedenfalls ein Wesen, das ohne Zufluchtszonen nicht existieren kann. Vom Schlaf bis zur Politik, vom Sex bis zur Metaphysik, vom Selbstmord bis zur Oper, Eskapismen in allen Farben, Narkosen, Götter, Himmelfahrten.
6. September, Ile Rousse
Der Wind hat sich gelegt. Il faut tenter de vivre.
Man muß an das Versprechen glauben, das der glückliche Moment in sich trägt: es werde für uns noch unzählige seiner Art geben.
Weite Blicke aus der Höhe von Cateri aufs Meer. Die Bäume stehen in der Brise, als wüßten sie, daß Sonntag ist.
Das Rad läuft ruhig den Berg hinauf, mühelos, ein stehendes Jetzt im Sattel.
Wer Plato überwinden wollte, müßte etwas anderes machen und die Überwinderei auf sich beruhen lassen.
7. September, Ile Rousse
Als ich nach längerer Zeit wieder einmal Le Monde aufschlage, finde ich den Artikel eines francophonen armenischen Intellektuellen, der anscheinend nichts anderes als den Genozid im Kopf hat. Er klagt gegen 90 Jahre des angeblichen »Kemalo-Faschismus« in der Türkei.
Du kannst so lange weg sein, wie du willst, sobald du zurück bist, findest du die Akteure bei denselben Tätigkeiten, bei denen du sie verlassen hattest. Du mußt nur ein paar Schritte zurücktreten, und du siehst nur noch Programme ablaufen, die in den Individuen installiert sind. Ein hochmütiges Urteil? Jeder lebt mit dem Maß an Redundanz, das er braucht, um sich mit sich identisch zu fühlen. Wenn man den Abstand so groß werden läßt, daß man die Muster deutlicher sieht als die Personen, nimmt man zwischen Identität und Mechanik keinen Unterschied mehr wahr.
Peter Gay hat mit seinem Buch über die Kultur der Weimarer Republik, das vor 40 Jahren erschien, das Bastard-Problem wohl als erster explizit erfaßt. Die kritische Idee steht im Titel: The Outsider as Insider . Das besagt, wenn das Legitimitätszentrum so ausgehöhlt ist, wie es in Europa seit der Katastrophe des Weltkriegs von 1914 bis 1918 nicht mehr verkennbar war, sind es immer öfter Leute vom Rande, die in die Mitte vorstoßen und das Feld der Kultur mit neuen Setzungen definieren. Seit damals ist das Thema der Inklusion der Ränder die maßgebliche Denkfigur. Sie ist nie wieder von der Agenda verschwunden, auch wenn sie nicht immer die erste Priorität behauptete. Was nach 1968 Subversion hieß, bedeutete nichts anderes als die Forderung: Laßt den Rand in die Mitte!
Der Außenseiter irritiert das Insiderfeld nicht so sehr durch seinen persönlichen Aufstieg. Er irritiert vielmehr dann, wenn er seinen Erfolg dazu benutzt, um die unerfüllten oder unerfüllbaren Forderungen der Peripherie an die Mitte zu repräsentieren. Der Outsider als Insider ist dazu prädestiniert, ein Agent von Überforderungen zu werden. Weil er es selber geschafft hat, neigt er dazu, für seinesgleichen Vergleichbares zu verlangen, wäre es auch nur symbolisch: als ob die ausnahmsweise Aufgenommenen für ihren ganzen Stamm das Recht auf Familiennachzug ertrotzen wollten. Etwas von dieser Dynamik klingt in Derridas sogenerösem wie phantastischem Konzept der grenzenlosen Gastfreundschaft mit. Es führt zu mengentheoretischen Paradoxien – wie wenn man verlangte, daß alle bei allen zu Gast sein sollen. Das klingt recht heiter, ja, sonntäglich freundlich, funktioniert aber nur, wenn ganz wenige kommen.
Zweierlei Ethiken: Immer mehr fällt auf, daß Derrida und Levinas nicht die geringste Beziehung zu der Übungsethik haben, wie sie in Du mußt dein Leben ändern entwickelt wird. Für sie ist die ganze Ethik in der Beziehung zum Anderen enthalten – wobei man den menschlichen Anderen als Kompositum aus dem Fremden, der Frau und dem Verlierer versteht, mit einem Zusatz aus gottartiger Ganz-Anderheit.
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