Zeilen und Tage
»schulde«, zumal denen, mit denen er sich zu Lebzeiten nicht einig war und die er in seiner Aufstiegsphase, im Demarkationskampf, heftig befehdet hatte. Woher mit einem Mal der milde Ton? Warum der Drang, sich hier beim einstigen Gegner als dessen Schuldner vorzustellen? Der Außenseiter, der a priori keinem etwas zu verdanken haben konnte, hat sich ja den Zugang zu der Welt, in der er später reüssierte, aus eigener Kraft erschließen müssen. Kein Mensch hatte ihm etwas mit auf den Weg gegeben, was einem Erbe glich. Erst recht, wie hätte er Schuldner seiner Gegner werden sollen? Seine Studien trieb er weitgehend außerhalb direkter Filiationen, und wo es solche in Ansätzen gab, spielten sie sich als Anlehnungen von flüchtiger Natur ausschließlich auf dem Boden der Pariser Intellektualkultur der sechziger Jahre ab.
Es ist die bastardische Dynamik, die für den Klang der deutschen Reden Derridas verantwortlich ist. In Frankreich hatte sie bewirkt, daß der Redner nie volle Genugtuung erfahren konnte – er wurde im eigenen Land nie so hoch geschätzt wie in den Literature Departments der USA und bei den begabteren Jungen in Deutschland, die damals nach Alternativen zur intellektuell ausgezehrten Frankfurter Schule suchten. Nun, da er den Sprung ins germanophone Zentrum geschafft hatte, war er – scheinbar – in einem sehr viel tieferen Sinn am Ziel, als er es in Paris oder in Kalifornien je hätte sein können.
Das Am-Ziel-Sein hat immer seine Tücken. Derrida war sich der Gefahr bewußt, und seine Rede handelt explizit von ihr. Mit einer Benjaminschen Wendung spricht er von sich selber als einem Räuber am Weg, der unter die Honoratioren geraten ist. Und da lag das Problem: Nach seiner Einarbeitung in die Zentraltradition von Hegel über Husserl zu Heidegger und in die Nebentradition von Benjamin zu Adorno mußte er früher oder später den Punkt erreichen, an dem ihm seine persönliche Freiheit von Schulden bei all den deutschen Autoren wie ein Stigma erschien. Wer nur räubert und keine verbrieften Schulden bei den Großen hat, deren Nachfolger er wäre, bleibt in der exzentrischen Position fixiert, herkunftslos, außerhalb der legitimen Sukzession. Derrida will aber endlich Schulden bei den Großen haben, wie einer, der nicht bloß etwas mitgehen ließ, sondern persönlichen Kredit bekam. Der Drang nach Legitimität wird in ihm übermächtig. Er möchte nicht nur ein Räuber gewesen sein, er möchte wirklich aus der Mitte beschenkt worden sein, er will dankbar sein dürfen, als ob er doch ein Erbe wäre.
Nach Frankfurt ist Derrida sicher nicht gekommen, um sich ins Goldene Buch der Stadt einzutragen. Das tut er nebenbei, weil es den Üblichkeiten entspricht. Was wirklich zählt, ist der Eintrag im Hauptbuch der deutschen Ideengeschichte – doch ist ein solcher Akt bei diesem Anlaß möglich? Derrida kennt das Risiko. In aller Offenheit spricht er von seiner intellektuellen Marginalität und von der Unmöglichkeit, den Preis verdient zu haben. Unddoch geschieht zu guter Letzt das psychologisch Wahrscheinliche: Da die Gelegenheit stärker ist als alle Vorsicht, fällt er in den Ton des Unendlich-in-der-Schuld-von-A-und-B-Stehens – einen Ton, der unvermeidlich falsch klingt. Falsch eben, weil Erben und Arbeiten/Räubern zwei völlig verschiedene Dinge bleiben.
Daß es für Derrida immer nur eigene Arbeit gab und keine Minute des Getragenseins von einem Erbe, ging auch aus seiner bizarren Bemerkung hervor, er wünschte, bei Gelegenheit noch 10000 Seiten über den Unterschied von Dekonstruktion und Kritischer Theorie zu schreiben – das klang auf Frankfurter Boden sehr anzüglich, als ob in seinen Augen alles bisher zum Thema Gesagte Makulatur wäre. Ich kannte ihn nicht gut genug, um einschätzen zu können, ob er mit dieser Bemerkung den Bereich der freiwilligen Komik betreten wollte oder den der unfreiwilligen erreicht hatte.
Natürlich darf der Außenseiter, wenn er ein großer und origineller Arbeiter ist, von der Fülle der Legitimität träumen. Nichts ist für ihn gefährlicher als die Versuchung, an das Wahrwerden des Traums zu glauben, und wäre es nur für die Dauer einer feierlichen Minute. Derridas deutsche Bewunderer konnten es zunächst nicht fassen, daß sogar er, der sich gern l’insoumis nennen ließ, den, der sich nicht ergibt, der Neigung zum Mitmachen bei den Vereinnahmungen durch die andere Seite erliegen konnte. Als es geschehen war, schieden sich die Geister.
Ich weiß noch
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