Zeilen und Tage
Die Ethik, von der ich spreche, hat nicht nur eine völlig verschiedene Stoßrichtung, sie besitzt auch in kulturtheoretischer Sicht ein anderes Volumen, da sie die ungeheuren Realitäten der asiatischen Zivilisationen, des Hinduismus, des Buddhismus einschließt, dazu die riesenhaften Askese-Zonen beider Hemisphären sowie die Artistiken aus aller Welt. Dazu kommen die Universen der neuzeitlichen Künste, die Virtuositäten, und sämtliche Formen der existentiellen Übung, der Steigerung und der Selbstentgrenzung. Von all dem findet man bei den Ethikern der Andersheit kaum ein Wort. Implicite dringen aber auch sie ins Feld der vertikalen Ethiken vor: Ihre Postulate ergeben ja nur Sinn, wenn man sie als Verlangen nach einem Virtuosentum des Offenseins für den Mitmenschen begreift. Man darf sich durch den egalitären Klang des Worts »der Andere« nicht täuschen lassen. Alteritätsethiker sind oft extremistische Elitäre, die gewöhnliche Menschen spielen.
8. September, Ile Rousse
Was égalité in einer praktischen Situation bedeuten kann, geht aus einer Kleinnachricht der französischen Zeitungen hervor, wonach man bei einem Besuch von Präsident Sarkozy in einerFabrik in Saligny dieser Tage dafür Sorge trug, keine Arbeiter um ihn herum auftreten zu lassen, die ihn an Körpergröße überragt hätten. Das wäre ein Detail für die Lokalsatire geblieben, wären nicht nationale Zeitungen auf das Thema aufgesprungen. Die wollten es nicht hinnehmen, daß man dem in Formatfragen empfindlichen Staatsoberhaupt eine ihm angepaßte Umgebung zugesellte – wahrscheinlich das erste Mal, daß Blätter der französischen Linken sich gegen die Diskriminierung der Größeren ins Zeug legen.
Was an Derridas Schreibweise auf die Dauer berührend wirkt, ist sein altmodisch selbstloses Ethos der Ausführlichkeit. Auf den ersten Blick erscheint sie schrecklich umständlich, auf den zweiten unnötig kokett, auf den dritten rücksichtslos platzverschwenderisch, doch vom vierten Blick an bewirkt sie eine stille Modifikation des Denkens. Es stellt sich dem Verlangen nach schnellen Einordnungen und bequemen Mustererkennungen hartnäckig in den Weg. Wenn man dieser Stimme länger folgt, lernt man, zu ihrer Intelligenz Vertrauen zu fassen. Man gibt sogar ihren Irrtümern, oder was wie solche aussieht, Kredit und verlängert ihn falls nötig über die normale Fälligkeit hinaus. Einem von Derridas Irrtümern begegnet man in der These, das Messianische könne nicht dekonstruiert werden – genausowenig wie »die Gerechtigkeit« – ein Satz, dessen himmelschreiende Falschheit in Derridas überall sonst so vorsichtig artikuliertem Werk einzig dasteht. Trotzdem läßt man sich, bevor man ihn ganz zurückweist, Zeit, ja, man wartet eine ganze Weile ab, ob nicht dem Autor noch etwas einfällt, um aus dem Falschen und Unplausiblen etwas Plausibles, indirekt doch Richtiges zu machen.
9. September, Ile Rousse
Erneut den langen Anstieg nach Montemaggiore, 80 Minuten im kleinen Gang bergauf, um nach der Paßhöhe die große Belohnung zu erleben, die Einfahrt ins Naturtheater des Monte Grosso mit den erschreckend gewaltigen Aussichten auf das breite Felsmassiv in der Sonne und die Bergnester zu seinen Füßen.
Die alteuropäische Philosophie hat die Beziehung zwischen der Ich-Subjektivität und Gott bzw. dem individualisierten Intellekt und dem Absoluten privilegiert. Die Du-Subjektivität blieb über all diese Zeit in der Latenz – der mit Du anredbare christliche Gott ausgenommen, der sich vor den Es-Gott der Philosophen schob. Nach Fichte, Feuerbach, Buber und Gotthard Günther ist die Du-Subjektivität aus dem Schatten der Ich-Theorien herausgetreten, Levinas hat gezeigt, wie auch sie zum Angelpunkt einer alternativen Metaphysik werden kann. Die polemischen Begleitgeräusche des Vorgangs, das Einprügeln auf die alte Ontologie, darf man getrost ignorieren. Es genügt, das Ergebnis der Korrektur zu begrüßen. An den Übertreibungen von Levinas läßt sich ablesen, daß die Du-Subjektivität sich als Ausgangspunkt für theoretische und ethische Himmelfahrten ebensogut eignet wie die Ich-Subjektivität. Die These, jeder andere Mensch inkarniere schon das Unendlich-Andere, ist genauso überspannt wie die klassische Idee, wonach das Ich das Vorgebirge des Göttlichen sei.
Am Denken von Levinas überzeugt mich nur ein Motiv, nämlich daß bei ihm die Ethik von einer Seite kommt, von wo keiner sie erwartete. Ihre Forderung an dich fällt dir als
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