Zeilen und Tage
Derrida zu Elisabeth Roudinesco, man habe in der Philosophie und in der Psychoanalyse bisher ausschließlich vom Tod gesprochen, doch an denkerischer Aufmerksamkeit für die Geburt fehle es nach wie vor. Retrospektiv ist das ganz richtig, doch reibe ich mir die Augen. In synchronischer Perspektive trifft diese Aussage seit einem halben Jahrhundert nicht mehr zu. Hannah Arendt hat seit den fünfziger Jahren von Natalität gehandelt und sie der Mortalität entgegengestellt. Parallel dazu hat Hans Saner die Geburtlichkeit thematisiert und über die natürliche Dissidenz des Kindes gesprochen. In der Psychoszene sind seit einigen Jahrzehnten die Pränatalistik und Perinatalistik weit vorangekommen und haben die Perspektive des Anfangs gestärkt. Und damit das liebe Ego nicht zu kurz kommt: In der Frankfurter Poetik-Vorlesung Zur Welt kommen − Zur Sprache kommen von 1988 habe ich das Programm einer Umstellung vom Todesdenken auf Geburtsdenken expressis verbis präsentiert. Und weil ein Programm ohne Durchführung nichts wert gewesen wäre, folgte die ausführliche Version einer Natalphilosophie in Form einer Psycho-Topo-Immunologie alias Sphären-Projekt von 1998 bis 2004 nach.
Man würde sich Derrida manchmal entschiedener wünschen. Sein grenzenloser Gebrauch von Sowohl-als-auch-Figuren zermürbt mit der Zeit selbst den gutwilligen Leser. Jawohl, die unbedingte Gastfreundschaft ist ein bedeutender, um nicht zu sagen ein unentbehrlicher Gedanke. Aber auch ja: Die Staaten haben das Recht, sich ihre Gäste auszusuchen. In diesem Zugleich hat man die ganze Dekonstruktion: Das Wirkliche respektieren, das Mögliche einklagen, dem Unmöglichen die Türe offen halten.
5. September, Ile Rousse
Wie es organisierte Meinung gibt, so gibt es auch organisierte Überempfindlichkeit.
Derrida öffnet in seinem Denken wieder ein Einfallstor für das Unendliche, das der Pragmatismus ein für alle Mal verschlossen zu haben glaubte.
So unterscheidet er zwischen dem bedingten Verzeihen – in Würdigung einer glaubhaften Reue − und dem unbedingten Verzeihen aus Gnade, bei dem man nicht sagen kann, wer, außer Gott, das Vorrecht haben soll, sie zu gewähren. Analog die Unterscheidung zwischen der bedingten und der unbedingten Gastfreundschaft.
Intellektuell am meisten stimulierend scheint mir die Unterscheidung zwischen dem bedingten und dem unbedingten Geschenk. Von dieser Distinktion aus ließe sich eine von Grund auf neue Theorie der Steuern in demokratischen Gesellschaften entwickeln. Der wahre Begriff der demokratischen Steuern, die weder absolutistisch noch zwangssozialistisch sein dürfen, entspricht präzis der Idee des bedingten Geschenks. Ein solches Geschenk bleibt naturgemäß in einen weiten Rahmen von Gegenseitigkeitsbeziehungen eingefügt. Diesen Rahmen meint man, wenn man im moralischen Sinn »Gesellschaft« sagt. Folglich besitzt die Überweisung des Bürgers an die Gemeinwesenkasse, dieman noch immer mit dem aus dem Mittelalter kommenden Wort »Steuer« oder dem absolutistischen Ausdruck »impôts« bezeichnet, einerseits die Merkmale einer echten Gabe, namentlich die freie Zuwendung, andererseits weist es die Züge einer Pflichtleistung auf, der man nicht ausweichen kann und soll. Die Unfähigkeit, diese Doppelnatur der Steuern zu denken, Geschenk und Obligation zugleich, ist die Krux aller heutigen fiskalpolitischen Diskurse. Auch juristisch ist der Sachverhalt noch lange nicht genug durchdacht.
In dieser Sache ist Derrida darum nur zur Hälfte ein Verbündeter. Hätte er es nicht vorgezogen, über das philosophisch dankbarere Thema des unbedingten Geschenks nachzudenken und statt dessen die Theorie der bedingten Gabe ausgearbeitet, dann hätte er noch zu seinen Lebzeiten den Ärger mit der reaktionären Linken am Hals gehabt, die im ewigen Etatismus festgefahren ist.
Beim späteren Derrida kommt das Streben nach der Aneignung der jüdischen Überlieferung mit einer bizarren Verzögerung ins Spiel. Es scheint, von einem gewissen Zeitpunkt an verlangte er danach, ein Zadik zu werden, ein Mensch, bei dem das Motiv der Gerechtigkeit, der unendlichen, der unmöglichen Gerechtigkeit ins Zentrum der existentiellen Denkbewegung rückte. Es kann ja keine reelle Gerechtigkeit ohne einen Gerechten geben und keinen Gerechten ohne die Bemühung um die unendliche Gerechtigkeit.
Auch hierin war Derrida kein Erbe einer Tradition, im Gegenteil, seine erste Lebenshälfte stand eher im Zeichen judäofugaler Impulse. Erst spät
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