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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Etikette Athens. Der Alte spricht von ihm wie von einem »Adoptivsohn«, einem möglichen »Erben«. Was zeigt: Die Transmission geht nicht mehr vom Vater auf den Sohn, sondern vom älteren auf den jüngeren Bastard. Man kann die Moderne nicht verstehen, wenn man nicht ihre Adoptionsmechanismen studiert.
    Spätestens seit der griechischen und römischen Antike war die psychische Adoption bedeutender geworden als die biologische Vaterschaft. Eine gut ausgebaute juristische Adoptionskultur unterstützte die Sachlage. Dann folgt der tausendjährige aristokratische Rückfall, in dem wieder alles über legitime Abstammung geregelt wird. Zu Beginn der Neuzeit erfolgt die große Wende: Von da an wird die Vater- und Vorbildwahl durch den Sohn bedeutender als die Annahme des Sohns durch den Vater – ausgenommen protestantische Pfarrhäuser und Musikerfamilien: In ihnen fällt der Schatten der Väter künftig erst recht schwer auf die Söhne, weil sie von ihnen nun auch geistig gekapert werden, wie es zuvor nur in rabbinischen Haushalten geschah.
    Schon Freud hätte das Problem erkennen müssen, da er sich alsKind für seinen Vater gelegentlich zu Tode schämte. Er zog das Unbewußte dem Peinlichen vor. Seine Erfindung der Psychoanalyse war in mancher Hinsicht ein Ausweichmanöver, um die schamgetönte Beziehung der jüngeren zur älteren Generation zu verdecken. Freud phantasierte lieber vom Vatermord, als zuzugeben, daß ihm der eigene Alte peinlich war. Der moderne Sohn ist kein Ödipus, sondern ein Enterbter, der früher oder später die Unmöglichkeit erfährt, den Vater zu respektieren. Man tötet den Vater nicht, man schämt sich für ihn – und man schreibt ihm wie Kafka einen langen Brief, der nicht abgeschickt wird.
    Das 20. Jahrhundert tat eine Weile so, als hätte es Lust, die ödipalen Suggestionen ernst zu nehmen, dann ging es über sie hinweg. Was für die Jungen bleibt, ist die Verlegenheit, sich Eltern zu wünschen, für die man sich nicht schämt. Inzwischen sagen die Kinder zu ihren Erzeugern: Ihr seid so peinlich. Die können meistens nichts anderes erwidern als: So sind wir eben.
    Wo Genealogie war, soll Wahl des Vorbilds werden. Das lose Blatt sucht sich einen passenden Zweig, der Zweig sucht sich seinen Baum.
    Die Urszene der genealogischen Moderne spielte sich in Assisi ab, als sich Franziskus von seinem Vater lossagte, indem er sich vor ihm nackt auszog und ihm die Kleider vor die Füße warf: Mehr als diesen Plunder hattet du mir nicht zu geben!
14. September, Wolfsburg Karlsruhe
    Die Sendung über die Tugenden gelang passabel. Beide Gäste dürften vom Publikum als Gewinner des Abends wahrgenommen worden sein, Thea Dorn, weil sie ihrem per se anziehenden öffentlichen Bild einen vorteilhaften Zug hinzufügte, den der ernsthaften, gut vorbereiteten Argumentiererin, Pater Klaus Mertes, weil er mit unauffälliger Brillanz seine Ansichten ins Spiel brachte, ohne irgend jemanden zu bedrängen.
    Aus der Presse: Für den internen Gebrauch der Europäischen Union sind in Brüssel und Straßburg 1,8 Millionen Textseiten übersetzt worden.
    Wie sich die Logiker einst der Evidenz versicherten: Man muß sich vergegenwärtigen, daß das Gefühl von zwingender Schlüssigkeit und völligem Überzeugtsein durch eine präsente Vorstellung zunächst nur im emotionalen Bereich auftreten kann: im Siegestriumph, in Freude, Lust und Schmerz, in der Empörung und in der Genugtuung über eine Wiedergutmachung. Kein Mensch weiß, wieso starke Evidenzen eines Tages auch bei der Verknüpfung von Sätzen in logischen Sequenzen auftraten. Irgendwann hoben die Denker den Kopf und spürten ein gedachtes Resultat so heftig, als hätten sie die Frau ihres Lebens über die Brücke gehen sehen.
15. September, Karlsruhe
    Stephan Wackwitz gibt eine Erklärung dafür, warum man in New York von der Krise wenig spürt: Wer dort abrutscht, kann sich den Aufenthalt in der Stadt von einem Tag auf den nächsten nicht mehr leisten und muß umgehend aufs Land ziehen. Wer bleibt, beweist, daß er bis auf weiteres zu denen gehört, die noch die Mittel haben, so zu tun, als hätten sie es geschafft.
    Vor einem Jahr meinten viele, eine neue Frugalität stehe vor der Tür. Man bedachte nicht, daß der moderne Konsum, mit oder ohne Krise, die Tendenz zum Luxuriösen, Überflüssigen, Übermütigen in sich trägt. Der kleinste ökonomische Aufschwung treibt die antifrugale Tendenz wieder offen voran.
17. September, Padua
    Wie die heilige Flamme von

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