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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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gut, meine Münchener, Frankfurter, Berliner Freunde sahen sich damals betreten an. In ihren Augen war etwas Schreckliches geschehen. Derrida hatte sich ohne Not zu den Deutschen erniedrigt. Jetzt blieb unter den größeren Beispielgebern für ein anderes Denkens von der linksrheinischen Seite allein Deleuze übrig. Der war 1995 aus einem Fenster im 5. Stock gesprungen, bevor man ihm die Akkolade mit den politisch Korrekten am Main anbieten konnte.
29. August, Karlsruhe
    Samuel Beckett, 1930: »Aren’t people shits?« In einem Brief, in dem er sich über entnervende Zeitgenossen beklagt, die Autogramme wollen.
31. August, Nizza
    Eheleute, durch zahllose gegenseitige Beleidigungen unzertrennlich.
    Nach einer Begegnung mit Rousseau schrieb Diderot an Melchior Grimm: »Dieser Mensch ist ein Rasender … man hörte seine Schreie bis ans Ende des Gartens … Wahrhaftig, die Hand zittert mir.«
    An den Querelen zwischen Rousseau und seinen Gönnern ist abzulesen, über welchen Pulverfässern die Gesellschaft der freien Individuen ihre Beziehungen bilden wird. Zu stolz, ein Nehmender zu sein, will der schreibende Emporkömmling als der in Wahrheit Gebende erscheinen. Einer seiner Gönnerinnen teilt er mit: »Vielleicht kommt einmal der Tag, da man … nicht ohne Rühmen sagen wird: sie war reich und vornehm und er liebte sie dennoch bis zum Grabe.« Da ist sie zu hören, die Stimme des sentimentalen Plebejers, der es nicht erträgt, in einer Beziehung der Dankesschuld zu wem auch immer zu stehen.
    Zweihundert Jahre später ist die Raserei der Undankbarkeit die erste Prämisse, die man nachvollzogen haben muß, um sich im Affektgewebe der aktuellen Gesellschaft taktsicher zu bewegen.
    Die Rousseau-Infektion erfaßt Europa in dem Moment, als Unzählige ein Interesse daran entwickeln, eine der elementaren politischen Wahrheiten zu ignorieren: daß »Gesellschaften« keine Freundeskreise sein können. Aus dieser mutwilligen Verkennung entspringt der anti-institutionelle Affekt, der uns noch immer in den Knochen steckt, selbst wenn man den Beamteneid geleistethat. Ihm liegt die hartnäckige Verwechslung von Gemeinschaft und Gesellschaft zugrunde, Rousseaus leidenschaftlichster Irrtum. Er ist von einer ungestümen Sehnsucht nach Betrug geprägt. Daß er die verderblichsten psychopolitischen Energien der beiden letzten Jahrhunderte freigesetzt hat, kann heute ein Student im ersten Semester erkennen. Doch zwischen 1789 und 1945 waren auch größere Geister gegen den Irrtum nicht immun. Nach 1968 brauchte man noch einmal zwei Jahrzehnte, um die reaktualisierte Verführung zu überwinden.
1. September, Ile Rousse
    Hier habe ich vor einem Jahr die Frankfurter Festrede für Bruno Latour geschrieben. Schade, daß durch die Trägheit des Verlags daraus ein Nicht-Event geworden ist. Weder die Rede selbst noch Brunos Erwiderung wurden publiziert, als ob man auch bei Suhrkamp an den Preis noch nicht so recht glaubte.
    Rousseaus Lebensgeschichte ist voll von Mahnzeichen. Seine aristokratischen Freunde hatten rote Teppiche vor ihm ausgerollt und goldene Brücken für ihn gebaut. Seine Antwort auf ihre Geschenke waren die Parolen des unversöhnlichen Ressentiments. Er lieferte den späteren Mördern seiner Gönner die Argumente für ihre Taten, indem er eine Welt erträumte, die keine Gönner mehr kennen soll. In dieser Hinsicht hat er erfunden, was man später das Klassenbewußtsein nannte.
    Zu Derridas Wortungetüm »Phallologozentrismus«. Es ist seiner Logik nach ein rein bastardologischer Begriff. Er faßt die legitime Tradition aus einer exzentrischen Lage auf und kombiniert das von Lacan rekonstruierte patriarchalische Phantasma mit dem Logos-Phantasma des Idealismus – in der löblichen Absicht zu zeigen, daß weder die Autorität vom Phallus kommt noch das Sein vom Logos. Wenn sich das so verhält – woher dann neue Legitimität gewinnen?
    Bedauerlich ist, daß Derrida die Geduld seiner Leser in jedem seiner Bücher durch Rituale der Umständlichkeit, der Preziosität, der Übervorsicht und des permanenten Sich-schreiben-Sehens auf die Probe stellt, als müßten sie sich die Anwesenheit bei seinen großartigen Momenten durch einen langen Selbstverleugnungstest verdienen. Von diesem Autor ist zu lernen: Man soll den ersten Eindruck nicht verwerfen, doch auch nicht auf ihn hereinfallen. Wer zu früh entnervt ist, versäumt das Beste.
3. September, Ile Rousse
    In dem ideenreichen Gespräche-Band Woraus wird morgen gemacht sein? sagt

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