Zeilen und Tage
ein Meteor vor die Füße. Da liegt das Ding und glänzt wie schwarzes Metall aus den Tiefen des Universums. Levinas nennt dieses exzentrische Ding das Antlitz, was fürs erste nach einem menschlichen Phänomen klingt. In Wahrheit bedeutet es einen Blitz aus einer Sphäre jenseits des Seins. Sein Appeal nötigt den, der es sieht, in die metanoetische Bewegung.
10. September, Ile Rousse
»Ich bin der Paraklet, und die Menschen, denen ich gesandt bin, werden in sich den wiederkehrenden Gott erleben und verstehen.« (Ernst Bloch, Briefe 1903-1975, 2 Bände, Frankfurt am Main 1985, Band II. S. 66)
Was aus der Dekonstruktion eines Tages werden wird? Wahrscheinlich lassen sich die künftigen Schicksale von Derridas Unternehmung indirekt am Ergebnis des Subversionsmanövers ablesen, das Ernst Bloch auf den Weg brachte, als er das literarisch-ideologische Spezialwort »Utopie« an das ethische Grundwort »Hoffnung« heftete. So wie Blochs Versuch gescheitert ist, weil die Alltagssprache das Wort »Utopie« heute wieder fast genauso negativ gebraucht wie vor dem Erscheinen von Das Prinzip Hoffnung , so ist wohl auch Derridas Manöver binnen absehbarer Zeit zum Scheitern verurteilt. Es kann nicht gelingen, ein idiosynkratisches Wort wie »Dekonstruktion« mit einem Ausdruck aus dem Urwortschatz der Menschheit wie »Gerechtigkeit« längerfristig zu verknüpfen. Außerhalb der akademischen Mauern ist das schon heute nicht mehr plausibel. Wenn man hört: »Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit«, weiß man gleich Bescheid. Das Gedächtnis läßt den linken Teil der Aussage fallen. Es behält, was es schon hatte, und bleibt so klug als wie zuvor.
11. September, Ile Rousse
»Der Melancholikus ist ein Phantast in Ansehung der Übel des Lebens.« (Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes )
Roudinesco berührt im Gespräch mit Derrida den sensitiven Punkt, der alle Überlebenden von 1968 angeht, soweit sie sich in der freudomarxistischen Atmosphäre bewegt hatten: Freud ist tot, Marx ist tot. Doch nur von dem letzten wollte Derrida zugeben, er könne gespenstisch spukhaft wiederkehren. Also: Spectres de Marx, durchaus. Spectres de Freud? Eher nicht. Wie ist dieser Unterschied zu erklären?
Derrida benutzt ein Argument aus der Geopolitik der Ideen: »… das Überleben dieser beiden Toten ist nicht symmetrisch. Das eine betrifft die Totalität des geopolitischen Feldes der Weltgeschichte (!), das andere wirft den Schatten seiner Halbtrauer (!) nur über die sogenannten Rechtsstaaten, die europäischen, jüdisch-christlichen, wie man vorschnell sagt …« (S. 290) Wie es Geopolitik gibt, so auch »Geopsychoanalyse«. Freuds Werk ist also mehr als eine Lokalgröße, aber weniger als ein Weltphänomen.
Derselbe Autor, der sagt: »Man braucht die Institutionen«, spricht ebendiesen Institutionen das Verfügungsrecht über ihr Existenzkriterium, das Recht zur Überwachung ihrer Innen-Außen-Grenzen, ab – zumindest läßt er es nicht ohne Zweifel an seiner Ausübung gelten. Daß er sich zur Notwendigkeit der Institutionen bekennt, macht ihn im Feld der französischen Autoren, die seit jeher einseitig die Subversion und die Entgrenzung feiern, zu einer Ausnahme. Zugleich delegitimiert er die Institutionen, sobald ihre Begrenztheit, ihr Zwang zur Exklusivität und die Knappheit ihrer Mittel ins Sichtfeld kommen.
13. September, Wolfsburg
Für Leute, die vergessen haben, was schlechtes Wetter ist, frischt die VW-Stadt die Lektion auf.
Bei den Vorbereitungen für die erste Sendung des Philosophischen Quartetts nach der Sommerpause zum Thema »Tugenden« notiert:
»Geiz also bedeutet die ängstliche Greisenhaftigkeit krampfhafter, einzig auf Bestätigung und Sicherung bedachter Selbstbewahrung.« (Josef Pieper, Über die Tugenden , S. 37) Das heißt, der Sicherungswille, der ganz und gar menschlich ist, führt zur unmenschlichen Erstarrung. Es sei denn, man gibt zu, daß die Erstarrung das Menschliche ist, vor dem es den noch nicht allzu Menschlichen graust.
Uroboros: Symbol der Selbstverzehrung durch Hyperimmunität. Außenlose Beziehung des Kopfs zum Schwanz.
Noch einmal zu den Bastarden: In der Welt am Sonntag findet sich ein Artikel über einen 19jährigen Jungen, mit dem sich Karl Lagerfeld neuerdings öffentlich zeigt, ein männliches Fotomodell namens Baptiste. Unmißverständlich vergöttert der alte Herr seinen neuen Begleiter wie der platonische Knabenliebhaber den eromenos gemäß der sozial-sexuellen
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